Das Haus der Besitzer lag auf einer kleinen Anhöhe. Rund um den Besitz hatte der damalige Schäfer, der seine Schafe auf der Insel frei herumlaufen ließ, eine Natursteinmauer gebaut. Didier folgte der Mauer, die in 150 Metern Abstand rings um das Haus verlief, und die den von den jetzigen Besitzern gewünschten Abstand zwischen seinen Bienenstöcken und dem Wohnhaus markierte. Strickt hielt er sich an die Abmachung, um die Besitzer nicht zu verärgern und damit ihre positive Entscheidung nicht zu gefährden.
Die Eigentümer weilten zurzeit nicht auf der Insel. Umso erstaunter war er, als er neben dem Haus Menschen sah. Wer war auf der Insel? Waren die Besitzer vielleicht doch zurückgekommen? Didier Callac näherte sich dem Haus um nachzusehen, wer die Leute waren. Sollte es der Eigentümer sein, würde er ihm einen guten Tag wünschen. Und wenn es Fremde waren?
Er blieb stehen und überlegte. Die Mauer bot ihm nur wenig Sichtschutz. Er duckte sich hinter die Mauer, verharrte ruhig und beobachtete, was rund um das Haus vorging. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder jemanden ausmachen konnte. Jetzt erkannte er das Gewehr, das die Person über der Schulter trug. Bewaffnete auf der Insel? Es war eindeutig nicht die Gendarmerie, die hier um das Haus spazierte. Jetzt tauchte eine zweite Person auf, die zwei gut verschnürte Pakete trug. Was zum Teufel ging hier vor? Callacs Neugierde war geweckt. Er wollte näher an das Haus herankommen. Als die beiden Männer wieder aus seinem Blickfeld verschwunden, und jetzt vermutlich auf der Rückseite des Hauses waren, kletterte Callac über die Mauer und rannte über das weiche Gras auf das Haus zu. Er musste das Haus erreichen, bevor die beiden wieder auf die Vorderseite traten.
Er hatte gerade einen Mauervorsprung erreicht, als er Stimmen vernahm.
„Wie lange soll das Zeug hier liegen bleiben?“
„Höchsten bis übermorgen. Der Chef will es dann abtransportieren.“
„Bist du sicher, dass niemand auf die Insel kommt?“
„Absolut sicher, wer soll schon auf diese gottverdammte, menschenleere Insel kommen. Außer diesem einen Haus, das sicher auch in den kommenden Wochen noch leer steht, ist hier nichts.“
„Doch, ich habe zwei oder drei Bienenstöcke gesehen.“
„Jetzt meinst du, dass die uns bei der Gendarmerie verpfeifen?“
„Quatsch, aber wenn es Bienenstöcke gibt, dann gibt es auch einen Imker.“
„Der Chef hat gesagt, dass außer den Besitzern der Insel niemand hierherkommt. Ich glaube dem Boss. Der kennt sich aus.“
Didier Callac wagte einen Blick um den Mauervorsprung. Nur wenige Schritte neben seinem Standort hatten die Männer einen eisernen Deckel hochgehoben und erneut zwei Pakete in den darunter liegenden Hohlraum gelegt. Wieder verschwanden sie hinter das Haus, die Bodenöffnung wurde nicht geschlossen. Callac schlich sich hin und sah hinein. Der Raum darunter maß vielleicht zwei auf einen Meter und hatte eine Tiefe von höchstens 50 Zentimetern. Das Loch war mit Holzdielen verkleidet, und darin lagen acht Pakete. Alle in Ölpapier eingewickelt und mit Nylonfäden verschnürt. Schritte näherten sich wieder. Callac rannte die wenigen Meter bis zum Mauervorsprung zurück und versteckte sich wieder dahinter.
„So, das sind die letzten beiden Pakete gewesen. Lass uns verschwinden. Ich will nicht unbedingt noch einmal jemanden umlegen müssen.“
„Ich mach noch schnell zu.“
Didier sah, wie einer der Männer die Öffnung mit dem schweren Eisendeckel verschloss und die daneben liegenden Grassoden sorgfältig darüberlegte. Das Versteck war nicht mehr zu sehen. Dann holte er die alte Holzbank und stellte sie wieder über den kaschierten Deckel.
„So, sieht doch aus wie immer!“
Die beiden Männer verschwanden. Callac schlich ihnen nach. Wer waren die beiden? Was hatten sie hier versteckt?
Didier Callac blieb vorsichtig. Er blickte um die Hausecke und beobachtete die Männer auf ihrem Weg zum Wasser. Sie stiegen in ein kleines Ruderboot und ruderten damit zu einer Yacht, die vielleicht 150 Meter vom Ufer entfernt vor Anker lag. Didier Callac meinte, die Yacht zu erkennen. Lag sie nicht auch im Hafen von Lampaul?
Er drehte sich um und ging zurück zur Vorderseite des Hauses. Er wollte unbedingt wissen, was in den Paketen war. Die alte Holzbank war schnell zur Seite gestellt und die Grassoden wieder vom Deckel genommen. Er hob den Deckel hoch und entnahm dem Versteck ein Paket. Mit seinem Taschenmesser schnitt er die Nylonverschnürung auf und wickelte das Paket aus. Zehn kleine Plastiktüten mit einem weißen Inhalt lagen jetzt vor ihm. Er musste nicht lange raten, hierbei handelte es sich um Rauschgift. Vor ihm auf dem Boden lag Heroin. Er nahm einen Beutel an sich. Die restlichen Tüten wickelte er wieder in das Papier und legte sie, ohne sie erneut zu einem Paket zu verschnüren, zurück ins Bodenversteck. Er verschloss die Öffnung und legte die Grassoden wieder darüber, schob die Holzbank an ihren Platz und machte sich auf den Weg zu seinem Boot.
„Wo hast du dein Gewehr?“, fragte der Ruderer seinen Kollegen.
„So eine Scheiße! Ich habe es auf der Mauer hinter dem Haus liegen lassen. Wir müssen sofort zurück.“
„Gut, dass wir noch nicht auf der Yacht sind.“ Die beiden Männer kehrten um und ruderten wieder zurück zur Insel. Vom Strand bis zum Haus waren es höchstens 100 Meter. Das Gewehr mit dem Zielfernrohr lag auf der Steinmauer hinter dem Haus. Der Mann nahm es auf.
„Lass uns jetzt verschwinden.“
Sein Kollege wollte sich nochmals vergewissern, dass sie auch alles wieder unauffällig verlassen hatten.
Auf den ersten Blick schien alles in Ordnung zu sein. Dann stutzte er aber und ging näher an die Bank heran. Die Grassoden lagen verändert. Er sah sich um. Die Gestalt, die er in der Ferne ausmachen konnte, entfernte sich eilig.
„Gib mir dein Fernglas, schnell.“
Sein Kollege trat zu ihm und reichte ihm das Fernglas, das er immer um den Hals hängen hatte.
„Was gibt es denn zu sehen?“
„Ich glaube, da unten läuft einer.“
Der Mann versuchte den Flüchtenden durch das Fernglas genauer zu erkennen.
„Unser Versteck ist geöffnet worden, ich habe so ein ungutes Gefühl gehabt. Sieh nach, fehlt etwas? Ich versuche herauszufinden, wer dort geht.“
Mit langen Schritten ging der Mann zum Wasser, übersprang die Steinmauer. Er blickte immer wieder durch sein Fernglas.
Didier Callac war inzwischen auf dem kleinen Beiboot angelangt und ruderte zu seinem Boot zurück.
Durch das Fernglas konnte sein Verfolger den Namen der Yacht erkennen, Callac I stand in großen Lettern auf dem Heck.
Er drehte sich um und rannte zu seinem Kollegen zurück.
„Und? Fehlt etwas?“
„Ja, ein Kilo ist aus einem Paket entwendet worden.“
„Verschließ alles, und lass uns schleunigst auf die Yacht gehen. Wir müssen den Typen finden, bevor er bei der Gendarmerie eine Aussage machen kann.“
„Sollen wir dann nicht lieber alles wieder auf die Yacht bringen? Nicht, dass jemand das Zeug hier findet.“
„Und wo willst du es verstecken? Ich finde, dass es hier besser liegt als auf dem Schiff. Wir müssen nur den Typen schnell ausfindig machen. Unsere Yacht ist bestimmt schneller als sein Boot.“
Didier Callac erreichte den Port du Stiff kurz nach sieben Uhr. Er verließ sein Boot wieder mit dem kleinen Beiboot und ruderte zum Kai. Das Wasser war jetzt beinahe unten, und die Kaimauer ragte etliche Meter über das Wasser hinaus. Er stieg aus und kletterte, mit dem langen Seil in der Hand, die Leiter hoch. Oben auf dem Kai angekommen, befestigte er das Boot an einem der zahlreichen Ringe. In der Innentasche seiner Seglerjacke steckte ein Kilo Heroin. Zur Gendarmerie brauchte er heute Abend nicht mehr zu gehen. Der Posten war um diese Zeit bereits geschlossen. Er würde das morgen erledigen. Die beiden Männer, die er auf der Île de Keller gesehen hatte, stammten bestimmt nicht von Ouessant. Gesehen hatte er sie aber schon. Sie wohnten in einem Haus, unweit vom Bourg de Lampaul. Ihre Yacht kam ihm bekannt vor, war das nicht die Yacht von Marechal? Lag die nicht hier im Hafen? Aber eigentlich konnte es nicht sein. Er wollte nachsehen, ob die Yacht im Hafen von Lampaul lag. Falls es die Yacht von Marechal war, dann wäre sie womöglich noch nicht im Hafen angekommen. Von der Île de Keller war es deutlich weiter bis zum Port de Lampaul als zum Port du Stiff . Er musste es überprüfen, er wollte Sicherheit haben. Er wollte auf keinen Fall jemanden verdächtigen, oder bei der Polizei anschwärzen, der nicht in die Sache involviert war.
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