„Der wird nicht zuhause sein“, meinte Paul und wollte sich bereits wieder auf den Rückweg machen.
„Lass uns einmal ums Haus gehen“, meinte Ewen und war bereits in Richtung des Gartens unterwegs.
Ewen bog um die Hausecke und sah in den gepflegten Garten. Ungefähr die Hälfte des kleinen Grundstücks, wurde als Gemüsegarten benutzt. Auf der anderen Hälfte des Gartens, stand so etwas wie ein Räucherofen, außerdem ein Gartentisch aus Metall und vier Gartenstühle. Von seinem kurzen Urlaub auf Ouessant wusste Ewen bereits, dass es sich bei dem Ofen sicherlich um die Vorrichtung handelte, mit der die Insulaner ihre Spezialitäten herstellten, indem sie ganz spezielle Grassoden verbrannten. Er hatte seinen Kollegen beim gemeinsamen Abendessen im Hotel davon erzählt.
Auf der Rückseite des Hauses sah Ewen eine weitere Eingangstür. Diese Tür stand offen.
„Seltsam, die Tür ist geöffnet, und niemand reagiert auf unser Klopfen?“
Ewen und Paul näherten sich der Tür.
„Hallo, ist jemand zuhause“, rief Ewen mehrfach und betrat das Haus. Alles blieb ruhig, kein Laut war zu hören. Sie standen in der Küche des Hauses und bewegten sich nur vorsichtig. Ewen sah den aufgeräumten Tisch und die leere, saubere Spüle. Alles war adrett und penibel aufgeräumt. Die Tür zwischen der Küche und dem daneben liegenden Raum stand auch offen. Wieder rief Ewen:
„Hallo, hallo, ist da jemand? Hier ist die police judiciaire.“ Keine Antwort.
Ewen ging auf die Tür zu und sah in den Raum, der unmittelbar hinter der vorderen Eingangstür lag. Ewen blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich dann zu Paul um.
„Ruf sofort Dustin und seine Mannschaft an, wir haben einen zweiten Toten.“
Didier Callac ging von einem Bienenstock zum nächsten. Verteilt auf der großen freien Fläche, zwischen dem Leuchtturm Stiff auf der einen Seite und dem Flughafen auf der anderen, hatte Madame Malgorn damals große Flächen aufgekauft und ihre Bienenstöcke dort aufgestellt. Seit ihrem Tod, vor über einem Jahr, verwaltete er das kleine aber durchaus lukrative Unternehmen. Das Erbe von Madame Malgorn hatte der Unternehmer, Vincent Dumont-Mellac aus Paris geerbt. Der Mann stellte Verpackungsmaterial für die Kosmetikindustrie her. Dumont-Mellac hatte ihm, Dieter Callac, die Verwaltung des kleinen Honigimperiums überlassen und sein Gehalt sogar noch erhöht. Er konnte von seinem Gehalt hier auf der Insel ein komfortables Leben führen. Es brauchte nicht viel, um hier gut leben zu können. Auf täglich wechselnde Kleidung, wie man sie als Manager, Anwalt oder als Angestellter einer Firma benötigte, konnte man hier gut verzichten. Sein alter Lieferwagen, der schon an die 16 Jahre alt war, aber erst 55.000 Kilometer auf dem Tachometer hatte, würde bestimmt noch weitere 16 Jahre durchhalten. Sein Haus hatte er von seinen Eltern geerbt. Es kostete ihn bis auf die zu entrichtende Steuer nicht viel. Viele Möglichkeiten sein Geld auszugeben, wenn man vom Erwerb von Nahrungsmitteln absah, gab es ebenfalls nicht auf Ouessant. So trugen viele Insulaner ihr Geld in die wenigen Bars und Restaurants der Insel, was zur Folge hatte, dass auch die Wirte ein angenehmes Leben führen konnten. Kurz gesagt, die Wirtschaft auf Ouessant lief gut. Wenn es auch nicht Geld hagelte, so tropfte es wenigstens gleichmäßig, pflegte Pierre Berthelé, ebenfalls ein Bienenzüchter und guter Bekannter von Didier Callac, zu sagen.
Seit einigen Wochen aber hatte sich das beschauliche Leben von Didier Callac verändert. Bei einem seiner seltenen Besuche auf dem Festland, war ihm eine Frau begegnet, die ihn sofort gefesselt hatte, und für die er bereit war, alles aufzugeben.
Er war, auf dem Weg vom Hafen in die Innenstadt von Brest, an der Grünfläche der Rue Pierre Brossolette entlang gegangen, als er sie auf einer Parkbank sitzen sah. Ein Buch in der Hand, mit Jeans und Pullover bekleidet, saß sie dort und genoss die letzten Sonnenstrahlen des zu Ende gehenden Sommers. Ihre dunkelbraunen, langen Haare wehten sanft im Wind, zurückgehalten von der Sonnenbrille, die lässig auf ihrem Kopf steckte.
Didier Callac war vom Anblick dieser Frau fasziniert gewesen. Wie konnte er sie ansprechen, ohne dass es plump wirkte? Er überlegte nicht lange, die ehrlichste Art und Weise war ihr einfach zu sagen, dass er nicht anders konnte und sie ansprechen musste. Mehr als eine Abfuhr konnte er nicht ernten.
„Verzeihen Sie Madame“, sprach er die Frau an.
„Ich kann nicht anders, ich muss Sie ansprechen. Ich würde Sie gerne kennenlernen oder wenigstens einmal in meinem Leben mit Ihnen eine Tasse Kaffee trinken gehen.“
Die Angesprochene hob ihren Blick, der bis jetzt noch an den Seiten des Buches gehangen hatte, und sah Didier Callac an.
Vor ihr stand ein gutaussehender Mann mit dunklen Haaren, den sie auf Ende dreißig schätzte. Wenn sie, trotz der sie blendenden Sonne richtig sah, sah er sie aus großen, braunen Augen freundlich lächelnd an.
„Bonjour Monsieur, haben Sie gerade gesagt, dass Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken wollen? Wie komme ich zu der Einladung? Wir kennen uns doch nicht.“
„Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mich Ihnen auf die plumpste Art genähert habe. Aber ich habe nicht anders handeln können. Würden Sie mir die Freude bereiten, und eine Tasse Kaffee mit mir trinken gehen? Ich finde Sie einfach wunderschön.“
Die Frau legte ihr Buch zur Seite und setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase. Dann schien sie zu überlegen, ob sie das Angebot des fremden Mannes annehmen oder es klar zurückweisen sollte. Sie erhob sich von ihrem Platz, nahm die Handtasche, die neben ihr auf der Bank gestanden hatte, und sah Callac an.
„Ich wollte sowieso gerade eine Tasse Kaffee trinken gehen. Warum nicht in Begleitung?“
Didier Callac war außer sich vor Freude. Sie gingen gemeinsam in die Innenstadt. Am Anfang der Rue de Siam lagen zahlreiche Bistros und Cafés. Auf der Terrasse des Au Bureau waren etliche Tische frei. Sie setzten sich an einen Tisch in der Sonne. Didier Callac bestellte zwei Tassen Kaffee, und die Frau bat den Kellner zusätzlich um ein Glas Wasser.
„Ich habe noch nie eine so direkte, aber, ich muss zugeben, schmeichelnde Einladung zu einem Kaffee erhalten. Wie heißen Sie überhaupt?“
„Verzeihen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Didier Callac, ich komme von Ouessant. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“
„Fragen dürfen Sie, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Frage beantworte.“
Didier Callac sah, dass die Frau bei der Antwort mit ihrem Ehering spielte.
So war es ihm in den vergangen Jahren immer wieder ergangen. Die schönsten Frauen schienen alle schon verheiratet zu sein. Aber diesmal wollte er sich davon nicht entmutigen lassen.
„Ich kann Sie gut verstehen, Ihr Ehemann ist eifersüchtig und wahrscheinlich ein Riese.“
Sie musste lachen.
„Weder das eine noch das andere. Mein Mann ist für vier Tage geschäftlich nach Berlin geflogen. Er hat mich mit nach Brest genommen, ich verbringe hier einige Tage bei meiner Freundin. Da auch meine Freundin berufstätig ist, können wir uns immer erst am späteren Nachmittag sehen. Was machen Sie denn?“
„Ich bin Verwalter eines Imperiums.“
„Wow, dann sind Sie ja eine ganz große Persönlichkeit?“
Jetzt war es an Didier, der lachte.
„Ich muss meine Aussage etwas ausführen, um keine allzu großen Irrtümer aufkommen zu lassen. Ich bin Verwalter eines Honigimperiums. Genauer gesagt, bin ich zuständig für ungefähr 80 Bienenstöcke. Warum ich das als Imperium bezeichne ist einfach. Auf unserer Insel Ouessant, gibt es vielleicht 120 Völker, da sind 80 schon eine ganze Menge. Sie sollen wissen, dass der Honig von Ouessant der beste der Welt ist. Er wird sogar in der Kosmetikindustrie eingesetzt.“
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