Als Wulfiard nickte, ließ der Mann ihn los. „Aber natürlich! Willst du dich nicht setzten, Freund, und ich schreibe die Verse für dich auf?“, fragte er laut.
Der Bärtige mochte ihm an Kräften überlegen sein, aber mit diesen Worten zwang er ihn, sich niederzulassen, damit seine Ablehnung nicht das Aufsehen erregte, das er ja vermeiden wollte.
Der dicke Kesselflicker beugte sich herüber. „Ich habe dich noch nie hier gesehen, Schmied. Kommst du von weit her?“
„Von Chasar, aber sagt, was ist das für ein Mann in dem weißen Burnus, den alle so verstohlen beobachten?“, erwiderte der.
Will der Schmied von seiner eigenen Person ablenken? Wulfiard schien es, als tue er absichtlich unwissend. Wollte er nur in Erfahrung bringen, ob die Leute in Shuyuk allesamt Anhänger dieses Ssadec Tabar waren?
Das Gesicht des Kesselflickers wurde bei der Frage des Fremden zu einer Maske, und er kniff die Augen zusammen. „Hast du noch nie von Ssadec Tabar gehört, Schmied? Er ist der mildtätige Helfer der Elenden, der Gönner der Armen, der Herrscher über das Mirkashtal, der bald den Norden Bual-Bators in die Freiheit führen wird“, sagte der Kesselflicker, wobei er einen schnellen Blick in die Richtung des Räubers warf.
„Mirkashtal?“ Auch Wulfiard tat ahnungslos, denn er hatte schon von den Tuodden von diesem Tal gehört. Die Antwort des Dicken hatte für ihn wie auswendig gelernt geklungen.
„Das Verschwundene Tal wird es genannt, denn niemand ist in der Lage, es aufzufinden“, erklärte der Dicke. „Aber es ist nicht ratsam, zuviel Interesse an diesem Ort zu zeigen.“
„Was passiert denn dann? Der Mann da drüben scheint doch ganz harmlos zu sein“, sagte Wulfiard in naivem Tonfall.
„Seht ihr den Natterzahn in seiner Schärpe?“ Der Kesselflicker hatte sich weit vorgebeugt, so dass er jetzt beinahe in die Ohren Wulfiards und des Schmieds sprach. „Mit diesen Dolchen haben schon zahlreiche Bürger, Geweihte des Jungen wie des Alten Tengris, Büttel, ja selbst Murdirs Bekanntschaft gemacht, wenn sie den Wünschen Tabars nicht entgegengekommen sind. Es ist ihre Erkennungszeichen: Wer einen silbernen Natterzahn trägt, hat schon mindestens zwölf Mal im Namen Tabars gemordet. Der hier trägt sogar einen Dolch mit goldenem Griff, weil er die doppelte Anzahl Männer und Frauen ins Jenseits geschickt hat.“ Der Kesselflicker, der offenbar keine Anhänger der Ssadesti war, deutete auf die Gänsefeder, mit der Wulfiard in der Zwischenzeit den Vers für den Schmied niedergeschrieben hatte. „Eine seltsame Feder hast du da. Benutzt man solche in deiner Heimat?“
Auch der Schmied war interessiert und betrachtete das Schreibgerät. Wulfiard gab sie dem Kesselflicker in die Hand, aus der Innenseite der steifen Weste zog er eine weitere Feder hervor. Mindestens ein Dutzend in verschiedenen Farben steckte darin. Die Federn waren mit einem Metallröhrchen versehen, das eine schräge Spitze besaß. In das konische Ende passten die Federkiele hinein, und weil dieser Aufsatz etwa halbfingerdick war, konnte Wulfiard das Schreibgerät besser fassen. Die Vorrichtung hatte den Vorteil, dass mehr Tinte ins Innere passte und die Spitze der Feder nicht mehr nachgeschnitten werden musste. Wulfiard war stolz auf seine Erfindung, die allerdings ein Geheimnis barg, das er den beiden nicht verriet.
Eingehend betrachteten die Männer Wulfiards Erfindung, waren sie doch von Berufs wegen mit Metall befasst. Der Kesselflicker staunte, wie fein und gleichmäßig die Röhrchen gearbeitet waren, und prüfte die Spitze mit dem Zeigefinger. Sofort zeigte sich ein kleiner Blutstropfen auf der Kuppe. „Beim Alten Tengris, die muss ein sehr geschickter Feinschmied hergestellt haben“, rief er und steckte den Finger in den Mund.
„Diese Federspitzen habe ich selbst ersonnen und sie taugen auch zu anderen Zwecken“, sagte Wulfiard, verriet aber nicht mehr. „Ein Goldschmied in Runland hat sie mir angefertigt. Er war so begeistert von der Idee, dass ich kaum etwas bezahlen musste, weil ich ihm die Erlaubnis erteilte, die Spitzen als seine Erfindung auszugeben.“
Auch der Schmied betrachtete die Messingarbeit genau und nickte anerkennend. Dabei hielt er sich immer so, dass er dem Ssadesti den Rücken zukehrte.
Die anderen Gäste hatten mitbekommen, dass der fremde Skalde satt war. Rufe nach einer neuen Geschichte wurden laut, und Wulfiard nahm gerne wieder den erhöhten Platz auf der Stuhllehne ein, denn es war ihm ganz recht, von dem seltsamen Schmied fortzukommen. Als die Leute jubelten, stellte sich eine innere Zufriedenheit ein, die er nur an wenigen Abenden verspürte. Hier erhielt er Lob und Anerkennung, ohne dass er Blut vergießen musste, wie seine Sippe es in der fernen Heimat verlangt hatte. „Hört die Geschichte von dem Krieger, der in Echsenblut badete und so unverwundbar wurde …“
Die Schänke war nun bis auf den letzten Platz gefüllt, der Wirt und sein Gehilfe kamen kaum nach, die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Wulfiard erkannte an seinem zufriedenen Gesichtsausdruck, dass er um ein Nachtlager nicht würde betteln müssen.
Der Applaus nach dem Ende seiner Geschichte war gerade abgeebbt, als hinter der Theke eine junge Frau erschien, bei deren Anblick Wulfiard beinahe das Herz stehen geblieben wäre. Sie war anmutig, auch wenn ihr die Üppigkeit einer Medeme oder die gefährliche Leidenschaft einer Sharina fehlte. Vielmehr war eine Zartheit und Reinheit an ihr, die in ihm augenblicklich den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen. So wie der Ssadesti mit dem narbigen Gesicht Angst um sich herum verbreitete, so schien um diese Schönheit mit den großen braunen Augen und den langen dunkelbraunen Haaren eine Aura der Vornehmheit und Friedfertigkeit zu sein. Wäre sie größer und spitzohrig gewesen, er hätte sie für eine bronzehäutige Elfenfrau gehalten, die in den Wäldern der Greiflande lebten. Die Geräusche in der Schänke schienen leiser zu werden, Schimpfworte und Flüche wurden nur noch geflüstert, niemand schnäuzte mehr in den Ärmel oder spuckte auf den Boden.
„Geh zurück in deine Kammer!“, hörte Wulfiard den Wirt zischen, der wohl ihr Vater war. Aber hinter der zarten Anmut verbarg sich ein resolutes Wesen, denn die Tochter griff nach den vollen Humpen und trug gleich sechs davon zum nächsten Tisch.
Diese Frau muss ich kennen lernen , dachte Wulfiard, koste es, was es wolle. Sicher ist sie nicht so unbescholten, wie sie tut, und hat die Liebe schon kennen gelernt. Und schließlich bin ich ein Skalde, weitgereist und unwiderstehlich. Er stand auf, als die Schöne auf ihn zu kam. Im Kerzenlicht leuchteten dunkelrote Reflexe in ihrem Haar auf wie Glut unter der Asche. Der dicke Kesselflicker griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten, denn er hatte die Blicke Wulfiards gesehen. „An Shehera wirst du dir die Zähne ausbeißen, mein Freund“, sagte er, aber Wulfiard hörte nicht auf ihn.
„Eine Jungfrau, so rein wie eine Meeresbrise,
graziös wie eine Hindin auf schattiger Wiese,
erscheint dem einsamen Mann wie ein Traum,
in diesem heißen Land glaubt er’s kaum.
Hält sie für des Jungen Tengris Gruß,
erhofft sich von ihr einen einzigen Kuss!
Die Gäste waren gespannt, wie die Wirtstochter auf den gutaussehenden Fremden und seine Verse reagieren würde. Ihre Mundwinkel zuckten, spöttisch oder anerkennend, das wusste Wulfiard nicht zu deuten. Ihre Blicke blieben an seinem goldblonden Haar hängen.
Es war nun so still, dass man den Lärm aus den anderen Schänken um den Marktplatz hören konnte. Wie würde Shehera antworten? Sie tat es auf eine Weise, die Wulfiard zum ersten Mal seit Monaten die Sprache verschlug:
„Ein Skalde, der meint, nur reimen zu müssen,
und schon kann er eine jede küssen,
der denkt wie der Hahn auf dem Haufen Mist,
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