Rayol Jamsillah nickte.
„Daher brauche ich jemand, der sich dieser Bande zum Schein anschließt und in dieses sogenannte Verschwundene Tal hineinkommt, wie es allerorts flüsternd und gar ehrfurchtsvoll genannt wird. Wenn es nicht gelingt, Tabar zu beseitigen, so muss ich wenigstens von seinen Mitteln und Plänen erfahren. Dazu benötige ich einen tollkühnen und kaltblütigen Mann, dem der Tod gleichgültig ist!“
Rayol musste nicht lange über eine Antwort nachdenken.
„Der schnelle Tod unter dem Beil, selbst der am Dorn ist mir gleichgültig. Ich sehne ihn sogar herbei, denn ich habe ihn verdient.“
Doriah hatte noch einen Trumpf. „Wo ist deine Verlobte jetzt?“
„Sie dämmert im Hause ihrer Eltern vor sich hin. Einen Medicus kann sich die Familie nicht leisten, auch wenn Meister Jassim Muktada versprochen hat, einen Teil des Preises zu tragen. Nun stirbt sie Tag für Tag ein kleines Stück, denn sie schläft und isst nicht und ihr Körper siecht dahin.“ Die Worte des jungen Schmiedes waren immer leiser geworden, schließlich erstickte seine Stimme.
Hauptmann Doriah nickte und stand auf. „Ich habe mit dem Medicus und den Schamanen des Khans gesprochen. Sie halten es für möglich, einen Vergessenszauber auszuüben, so dass deine Gaiana nicht mehr an das denken muss, was ihr angetan wurde. Im Kloster des jungen Tengris könnte man sie durch einen Blickzauber dazu bringen, ihren inneren Frieden zu finden. Wenn sie wieder isst und schläft und zu Kräften kommt, werden die Geweihten ihr behutsam erklären, was passiert ist und wie sie damit leben kann.“
Zum ersten Mal erschien Hoffnung im Blick Rayols. „Und ihr würdet das veranlassen, wenn ich mich bereit erkläre, nach Shuyuk zu gehen?“ Er sprach mit flehendem Unterton.
Doriah wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Das würde der Khan für deine Gaiana tun. Und bevor wir dich in die Höhle des Ogers schicken, werden wir dich einiges lehren, was dir deinen Auftrag auszuführen hilft.“
Rayol Jamsillah war aufgesprungen. „Verfügt über mich, Hauptmann. Für Gaiana will ich gerne Folter und Qual riskieren.“
Viermal hatten die Tengrissöhne zu- und wieder abgenommen, als Rayol Jamsillah sein Bündel packte. Er wollte nicht mehr mit sich führen, als es für einen Schmied in den Wanderjahren üblich war. Sein prachtvolles Schwert, das ihm als sein Gesellenstück überlassen worden war, war das einzig Bemerkenswerte an ihm. Abgesehen von dem mächtigen Brustkorb und den gewaltigen Armen natürlich.
Der einäugige Moamin Doriah, hatte ihm gerade noch einmal seine Befehle eingebläut, die Namen von anderen Kundschaftern, die sich unerkannt in und um Shuyuk aufhielten, abgefragt und ihn im Namen von Recht und Ordnung auf den Weg geschickt. Aber bevor Rayol sich auf die mehrtägige Wanderung nach Shuyuk machte, wollte er seiner Gaiana einen letzten Besuch abstatten.
Am Eingang zum Kloster begrüßte ihn eine Geweihte mit einem freundlichen Lächeln. Er war in den vergangenen Monaten so oft wie möglich hergekommen, und die meisten Geweihten im Kloster wussten, was seiner Verlobten widerfahren war. Rayol Jamsillah ging durch die Säulenhalle, vorbei an den Altären mit abstrakten Abbildern des weiten Himmels, der Regenwolken und blühenden Bäume und Blumen, die den jungen Tengris versinnbildlichten. Die meisten dieser Avatare des einen Gottes waren in Gold gehämmert oder aus bunten Kristallen gelegt und standen für die Macht, die man den Aspekten des jungen Tengris in der Hauptstadt des Khanats zumaß. Rayol kniete vor dem hohen, in Emaille ausgeführten Regenbogen nieder und trug stumm seine Bitte um Genesung seiner geliebten Gaiana vor. Sein Opfer, getrocknete Blütenblätter, nahm der Gott wohlwollend an, was er an der senkrechten Rauchsäule erkannte, die von der Glut des Opferfeuers aufstieg.
Nach einer letzten Fürbitte stand er auf, verließ die Säulenhalle durch das seitliche Portal und stand im Schatten eines Wandelgangs, der einen sonnendurchfluteten Hof umgab. Auf der anderen Seite gingen zahlreiche Türen zu den Kammern der Geweihten und Gäste des Klosters ab. Eines dieser kleinen Zimmer teilte sich Fatuma mit Gaiana. Die alte Geweihte wachte Tag und Nacht über sie und nahm die verstörte junge Frau auch in den Kräutergarten mit, den sie seit vielen Jahren am Rande des Innenhofes pflegte. Dort fand Rayol sie auch an diesem Vormittag. „Seid gegrüßt, ehrwürdige Fatuma!“
Die Geweihte erhob sich mit einem Ächzen und wischte sich die Hände an der Schürze ihres hellgrünen Habits ab. „Rayol, ich freue mich dich zu sehen, und Gaiana sicher auch.“
Er betrachtete seine Verlobte, die auf einem Stuhl in der heilsamen Wärme saß und ihre Hüterin ansah. Ihre körperlichen Wunden waren gut verheilt, nicht einmal Narben waren zurückgeblieben. Der Medicus des Khans hatte ihm berichtet, dass sie, wenn ihr Geist wiederhergestellt war, sogar wieder die Freuden der Liebe würde verspüren können. Rayol wusste auch, dass Gaiana bei seinem Anblick nicht mehr als ein Gefühl des Erkennens verspürte. Der Blickzauberer hatte sie mit der Kraft seiner Augen und seines Willens so eingestellt, dass sie nur die guten Gefühlsregungen in ihrer Umgebung wahrnehmen konnte. Deshalb hatte man auch Fatuma an ihre Seite gegeben, deren immerwährende Sanftmut sich bereits heilend auf Gaianas Gemüt ausgewirkt hatte. Offensichtlich spürte die Kranke Rayols Freude über ihr gesundes Aussehen, denn sie lächelte, als er näher kam.
Er nahm ihre Rechte und streichelte sie. Zu seiner Überraschung hob sie die andere Hand und strich durch seinen dichten Bart. „Gaiana, mein Liebling, ich muss noch einmal fort. Diesmal habe ich eine Pflicht zu erfüllen, ein Versprechen, das ich gegeben habe, damit man dich hier gesund pflegen kann. Ich kann nicht schwören, dass ich zurückkomme, aber ich werde vorsichtig zu sein.“ Er sprach auch zu Fatuma, denn sie sollte wissen, was er zu tun hatte. Das Lächeln in Gaianas Gesicht hatte nicht aufgehört und Rayol sah die Geweihte an.
„Sie lächelt jetzt oft. Der Medicus und der Blickzauberer meinen, dass sie ihre Sinne bald ein wenig weiter öffnen können. Auch der Anblick von Tengris Schöpfung wird ihr Gemüt aufhellen. Vielleicht, wenn Ihr zurückkehrt …“
„Ich danke Euch, Fatuma. Bitte versteht, dass ich in den nächsten Monaten nicht nach ihr schauen kann.“
„Es ist gut, Schmied Rayol. Wir sind hier im Kloster nicht von der Welt abgeschnitten. Schließlich leben wir Mauer an Mauer mit dem Khan.“
Auf seiner Flucht nach Norden kam Wulfiard dem Tengriswall näher und näher. Die schroffen Bergspitzen am Horizont wuchsen in die Höhe, bis sie die wenigen Wolken zu berühren schienen, die sich über dem Gebirge hielten. Kein Pass, kein Schotterweg, nicht einmal ein Schmugglerpfad führte über diesen Teil des Gebirgszuges. Wulfiard wusste, welche Länder dahinter lagen, wie die Ebenen hießen, auf die wieder Berge folgten und wieder fruchtbares Land. Viele Städte und Länder, so anders als Bual-Bator, hatte er besucht und war niemals lange geblieben. So viele Landstriche hatte er durchwandert, um möglichst viel Abstand zwischen sich und seine Sippe zu legen, und er war immer noch dabei, fortzugehen.
Von Fayum hatte er zunächst nach Südwesten gewollt, um schließlich von einem Hafen im Süden des Taufi ein Schiff zu einer der Halbmondinseln zu bekommen. Dann wäre er soweit von seiner Sippe entfernt, wie es nur möglich war. Aber es spielte keine Rolle, wann er sein Ziel erreichte, weil er gar nicht wusste, was er dort tun würde. Und da er neugierig darauf war, was es mit diesem Räuberkönig und Freund der Armen auf sich hatte, würde er sich eben erst in Shuyuk umsehen, bevor er weiter nach Süden ging.
Am Nachmittag holte er auf dem Karrenweg, der über die verbrannte, ockerfarbene Ebene führte, eine Gruppe hochgewachsener Männer ein, die in die gleiche Richtung wanderten wie er. Sie hatten helle Haut, helles Haar und trugen große Kiepen aus Weidengeflecht auf dem Rücken. Darin waren Ballen mit Leinenstoffen, aus Horn geschnitzte Bestecke und Würste von dunkler Farbe, die so hart wie Stein aussahen. Sicher stammten sie aus den Greiflanden, allerdings nicht aus Runland.
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