„Tengris zum Gruße!“, rief Wulfiard.
Die Männer betrachteten ihn stumm und marschierten unbeirrt weiter. „Zum Gruße!“, sagte der Anführer. Auch wenn ihre Begrüßung nicht besonders herzlich war, so hatten sie doch ehrliche Gesichter. Am Leib trugen die Kiepenmänner Blusen aus blaugefärbten Leinen und an den Füßen hölzerne Schuhe, die sicher sehr haltbar, aber fürchterlich unbequem sein mussten.
Wulfiard blieb nichts anderes übrig, als seinen Schritt zu beschleunigen, bis er mit dem Anführer gleichauf war.
„Wo kommt he wech?“ Der große Mann mit den Haaren, die noch blonder waren als Wulfiards, sprach in einem schwerfälligen, getragenen Tonfall.
„Ich stamme auch aus dem Norden, aber gerade komme ich aus dem Süden.“
Der Kiepenkerl nickte bedächtig. Fragte er deshalb nicht weiter nach, weil er es für unhöfliche Neugier hielt?
„Ist es recht, wenn ich mit euch gehe?“
„Twee Fäuste un een runländischer Langdolch mehr.“ Es war wohl selbstverständlich für den Anführer, dass der einsame Wanderer sich ihnen anschloss, um im Schutz der Gruppe zu reisen.
Dann wurde Wulfiard bewusst, dass es die Beobachtungsgabe des Mannes war, die ihm weitere Fragen nach seiner Herkunft ersparten. „Was tragt ihr da auf dem Rücken?“
„Kiepen sin dat“, sagte der Mann hinter dem Anführer.
Wulfiard ging an seiner Seite weiter. „Kiepen?“
„Sacht man bi uns im Quellreich so. Tuodden sin wir, wandernde Händler. Tragen darin unsere Waren.“ Die anderen Männer sahen den Sprecher an, als missbilligten sie seine Redseligkeit, und da schwieg auch er.
Die Kiepenkerle marschierten wortlos Stunde um Stunde, ohne ein Zeichen von Müdigkeit zu zeigen. Wulfiard stimmte leise ein fröhliches Wanderlied an, um sich in der stummen Gesellschaft die Zeit zu vertreiben. Nach der zwölften Strophe beendete er das Lied. Er erntete zwar keinen Applaus, aber immerhin zufriedenes Brummen und beifälliges Gemurmel. Wie um sich zu revanchieren begann der Anführer ein Lied mit einer getragenen Melodie, in das seine Kameraden bald einstimmten. Der Skalde war überrascht, dass diese schweigsamen Männer geübte Singstimmen hatten. Ihr Lied handelte von nebeligen Auen im Morgenlicht, heckendurchzogenen Ebenen und dem saftigen Grün ihrer Heimat. Es passte zwar kaum in diese heiße Gegend Bual-Bators, aber die Zeit verging schneller, während sie dem Pfad weiter nach Nordwesten auf die Berge zu folgten. Gerne hätte er das Lied aufgeschrieben, aber die Tuodden machten immer noch keine Anstalten, eine Rast einzulegen.
Aus dem flachen Land wuchsen sanfte Wellen empor, aus den Wellen wurden kleine Kuppen. Noch war der Boden kahl, steinig und sonnenverbrannt, aber hier und da lief nun ein Rinnsal den Hang hinunter. Spärliches Grün breitete sich von diesen kleinen Wasserläufen aus, und bald war mehr Grün als Grau und Ocker zu sehen. Wulfiard staunte nicht schlecht, als er in der Ferne künstlich angelegte Terrassen an den Berghängen sah, auf denen Weinstöcke in schnurgeraden Reihen standen. Hier wurde der trockene Rote angebaut werden, der in den Schänken ganz Bual-Bators die Kehlen hinunterfloss.
Vor ihnen, zur Rechten des Weges, der breiter geworden war und nun auch Karrenspuren zeigte, entdeckte Wulfiard ein steinernes Gebilde, wie er es in dieser Gegend noch nie gesehen hatte. Vier doppelt mannshohe, von unvorstellbaren Kräften glatt geschliffene Steine standen in genau abgemessenem Karree und trugen einen fünften, noch gewaltigeren Stein, der wie ein ovales Dach auf den Tragsteinen ruhte.
„De Fievsteen erinnert uns an de Riesengräber in de Heemat“, erklärte der Führer der Kiepenmänner, als sie die Steinsetzung erreicht hatten. Er sah Wulfiard an und schien auf etwas zu warten. Wulfiard verstand nicht, bis ihm auffiel, dass der Weg sich an der Steinsetzung teilte. Die Karrenspuren auf dem abzweigenden Weg waren tiefer und zahlreicher. „Ich will nach Shuyuk, welchen Weg muss ich nehmen?“
„Links geits op de Berge un dat Mirkashtal zu, in dem seit een paor Jaohrn de Mörder um Ssadec Tabar hausen.“ Der Kiepenmann spie auf den Boden. Das war die stärkste Gefühlsregung, die Wulfiard während des ganzen Tages bei diesen bedächtigen Männern beobachtet hatte.
„Un auf dem annern Wech is man in eene Stunde in Shuyuk.“
„Nun, dann habt Dank für eure Gesellschaft“, sagte Wulfiard und wollte sich nach rechts wenden.
„Möcht he lieber alleene in Shuyuk ankommen? Will he nich mit uns gesehen wern?“, fragte ihn der Anführer nun.
Wulfiard sah ihn verwirrt an, und die Mundwinkel des Mannes zuckten. Tatsächlich hatten die Kiepenmänner gar nicht gesagt, in welche Richtung sie wollten, fiel ihm ein. „Aber nein, entschuldigt, ich würde gerne mit euch bis nach Shuyuk gehen.“
Der Kiepenträger nickte, machte sich auf den Weg nach rechts und seine Kameraden folgten so schweigsam, wie sie es den ganzen Tag gewesen waren. Es war mittlerweile später Nachmittag, aber die Kiepenmänner schritten immer noch kräftig aus. Wulfiard, dem die Beine schwer wurden, schüttelte den Kopf und trottete hinterher.
Der Anführer, dessen Namen Wulfiard immer noch nicht kannte, sollte Recht behalten. Es verging kaum eine Stunde bis sie die ersten Lehmhäuser Shuyuks mit den typischen flachen, pultartigen Dächern sahen. Die Zisternen auf den Rückseiten, in die das seltene Regenwasser von den Dächern geleitet wurde, waren abgedeckt, damit das Wasser nicht verdunstete. Der kleine Ort hatte weder Stadtmauer noch Bazar, Frauen und Kinder in den engen Gassen musterten sie misstrauisch und verstohlen. Um den Dorfplatz vor dem Haus des Murdirs, dem einzigen Haus mit zwei Stockwerken, reihten sich die Werkstätten der Handwerker, zwei Handelskontore und ein paar Teestuben und Schänken.
Die Kiepenmänner blieben auf dem Platz stehen, der alle paar Wochen als Markt- und Richtplatz diente, und sahen Wulfiard an. Er wurde nicht schlau aus dem wortarmen Gebaren der Männer.
„Wir wern noch twee Stunden gehen und unner freiem Himmel öwernachten“, erklärte ihr Anführer.
„Dann ist jetzt wohl doch der Zeitpunkt gekommen, Abschied zu nehmen“, sagte Wulfiard.
„Joah“, antwortet der Mann, „und wenn he mal ins Quellreich kommt, frach er nach den Duorpen der Tuodden. In Riesenbeek wird he Avgust Hetlaak finden un bi hem willkuommen sin!“
„Danke, das werde ich tun“, sagte Wulfiard und sah die Tuodden der Reihe nach an. „Und euch allen einen guten Weg, den die Götter ebnen mögen!“ Da sie wie er von jenseits des Unsteten Pfads kamen, war es angemessen, die Götter der Greiflande anzurufen.
Wieder einmal antworteten die Männer mit Gebrummel, Kopfnicken, aber auch mit freundlichen Blicken aus hellblauen Augen. Dann wandten sie sich um und verließen den Marktplatz auf der anderen Seite. Erst jetzt fiel Wulfiard auf, dass der Anführer der Kiepenmänner ihm seinen Namen genannt hatte. Er hatte ihn sogar eingeladen, sein Gast zu sein. Anders als bei ähnlichen Abschieden hatte Wulfiard das Gefühl, dass Avgust Hetlaak es durch und durch ernst gemeint hatte.
Als die Kiepenträger den Platz verlassen hatten, war es früher Abend geworden. Zeit für eine Mahlzeit und einen erfrischenden Trunk, für den er nichts weiter zu bieten hatte, als seine Geschichten und seine Dichtkunst. Also musste er eine Schänke finden, in der man solche Kunst zu schätzen wusste. „Tengris zum Gruße! Ein Gedicht für einen Trunk, eine Mahlzeit für eine Geschichte!“, rief er, als er in das erste Wirtshaus trat.
Das bisschen Getuschel und Geflüster unter der niedrigen Decke verstummte. Wulfiards Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, und als er sah, dass unter den Gästen kaum jemand war, der noch alle Finger an den Händen hatte, dass einige Männer durchstochene Wangen hatten und auch das eine oder andere ausgebrannte Auge, die Strafen für falsches Zeugnis und Meineid, hielt er inne. In solch einer Spelunke würde er wohl kaum ehrlichen Lohn erhalten. „Mögen eure Geschäfte erfolgreich sein!“, sagte er und schloss die Türe.
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