Dietmar H. Melzer - Das melancholische Timbre

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In den Sechzigern ist der JATSSKÄHER in Stuttgart ein beliebter Treffpunkt. Jugendliche erleben hier neue Musik, die Älteren bekommen Musik zurück, die man ihnen in ihrer Jugend weggenommen hat. Das melancholische Timbre des neuen Trompeters bringt einen sentimentalen Klang in die Band. Das wird man in Frankreich lieben, glaubt der Inhaber des Musikrestaurants BEATNIK in Juans-les-Pins, den viele einen Anarchisten nennen. Aus Amateuren werden Berufsmusiker, die Freundin und Familie verlassen, um ein aufregendes Leben an der Côte d' Azur zu beginnen. Sie haben Erfolg, genießen edle Speisen und treffen auf scheinbar leichtsinnige Lebenslust. Der Trompeter verliebt sich. Der Vater seiner Geliebten ist damals für die Deutschen gewesen, hat aber etwas gegen Künstler. Die Großmutter indes liebt Künstler. Ihr Sohn ist ja aus in einer skandalösen Beziehung zu einem Kunstmaler gezeugt worden. Doch sie verabscheut Jazz wegen der Disharmonien. Der Onkel hat die Konzentrationslager in Friedrichshafen und Überlingen überlebt, trinkt seither deutsches Bier und fühlt sich dabei wie ein Kannibale, der das Blut seines besiegten Feindes zu sich nimmt. Kann Musik heilen? Aus der ganzen Welt finden sich Musiker ein, bieten traurigen Blues, fröhlichen Swing, wirbelnde Flamencos, rührende Chansons, berauschende Sinfonien. Aus Paris kommt eine schwedische Klarinettistin, die bisher nur klassische Musik gespielt hat. Eigentlich keine schöne Frau, die sich unvorteilhaft kleidet und am Strand einfach nackt ins Wasser springt. Aber wie sie nun Jazz interpretiert, fasziniert nicht nur das Publikum. Sie verzaubert den Trompeter.
Musik weckt Gefühle. Jeder Mensch weiß, welche Musik ihn berührt, eine Sinfonie, ein Volkslied, eine Jazzballade… Musik kann aufwühlen, ein Popkonzert verrückt machen, Musik kann Gefühle wecken, für die uns die Worte fehlen. Auch Liebe.
Und der Trompeter glaubt, diese Zeit müsse für immer Gegenwart bleiben.

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Dietmar H. Melzer

Das melancholische Timbre

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Inhaltsverzeichnis Titel Dietmar H Melzer Das melancholische Timbre Dieses - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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I Simones Sinfonie

II Negermusik

III Ein nettes Fräulein

IV Jatss

V Party

VI Schneetreiben

VII Schwarzwälder Kirschtorte

VIII Das Kleid

IX Die Chance

X Seidenluft

XI Dschass

XII Festival

XIII Mit beiden Händen

XIV Ein uraltes Bett

XV La famille

XVI Trinkerei

XVII Ein anderer Dschass

XVIII Das tiefe A

XIX Hochfliegend

XX Ave Maria

XXI Tränen

XXII Karins Brief

XXII Simones Brief

Impressum

I Simones Sinfonie

Sonntags gönnen wir uns nach dem Mittagessen eine Schwarzwäl­der Kirschtorte. Am Ende unseres Morgenspaziergangs durch die Stadt springt Karin in das Café „Zum Schwarzen Raben“ hinauf, in den ersten Stock eines bunt restaurierten Fachwerkhauses, wo ihr eine Verkäuferin in weißer Schürze zwei dieser süßen Sünden be­reithält, cremig-sahnige Kunstwerke, in deren Boden man dezent Kirschwasser schmeckt, in deren Sahne man einen Hauch von Walderde zu finden glaubt, und Schokoladenspäne auf der Zunge Düfte von Fichten im Mai freisetzen. Und dann die köstlichen Kir­schen…! Kein schnapsgetränkten, zuckrig kandierte Klumpen, die in den Zähnen ziehen, sondern Kirschen, richtige Kirschen, die ei­nen – wenn man ihre feste Haut durchbeißt – vom kalten Feldberg in das warme Rheintal reisen lassen, und beim Kauen des säuer­lichsüßen Fruchtfleisches zu einem späten Kirschbaum an die Bri­gach führen. Im Café „Zum Schwarzen Raben“ gibt es die besten Schwarzwälder Kirschtorten der Welt. Karin und ich sind davon überzeugt, und auch alle Einwohner unserer Stadt.

Wir trinken den Ihringer Weißen dazu, der vom Mittagessen geblieben ist.

Besonders Karin liebt diese Torte und isst sie mit Lust. Manchmal lässt sie unter der Lippe oder an einer Backe Schokoladenflocken kleben. Ich muss dann aufstehen und mich über sie beugen, um die Schokoladenreste abzulutschen, muss im Gesicht weiter suchen, auch in ihrem Mund, ob dort Süßes geblieben ist. Während sie mich in das Schlafzimmer zieht, kann sie sich geschickt Bluse und Rock und die Wäsche darunter ausziehen und mir auch das Hemd und die Hose, ich muss nicht viel helfen dabei. Ich fühle mich heimisch und geborgen mit ihr und in ihr. Und dann klopft mir das Herz bis zum Hals und ich ringe nach Luft. Ich werde einmal einen Herzinfarkt bekommen. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, sagt sie, und führt meine Hand zu mir und zu sich, um ihres und meines auf ihre Brüste zu reiben. Ich muss sie drücken und kneten. Es müsste ihr eigentlich wehtun. Aber sie will es immer und hat es schon beim ersten Mal so verlangt.

Den Herzinfarkt bekäme ich, wenn sie es nicht mehr und nicht mehr so wollte.

Wir sind nicht immer zusammen gewesen. Vor unserer Heirat wa­ren wir eine Weile getrennt. Als wir wieder zusammenkamen, war ich etwas erfahrener in der Liebe. Sie ist zuerst eifersüchtig auf die gewesen, mit denen ich in allerlei beglückenden Variationen ge­spielt hatte, auch mit Lippen und Händen. Mit der Zeit hat sie aber nichts von dem abgelehnt, was ich ohne sie alles probiert hatte. Nur bei ihren Brüsten muss ich mit meinen Händen der grobe Jüngling bleiben. Sie räkelt sich dann nackt im hellen Licht des Nachmittags, als ob sie damit in unsere Jugend zurückfinden könnte. Sie hat immer noch die gleiche Frisur, mit der ich sie einst kennenlernte. Nur sind die kurzgeschorenen, einmal braunen Haare, grau geworden. Das magere Mädchen von damals ist sie nicht mehr. Alles ist üppiger an ihr geworden, die Arme, die Hüf­ten, die Schenkel, der Hintern, die Schultern, und ihre einmal win­zigen Brüste haben mir mit den Jahren immer mehr in die Hände zum Drücken und Kneten gegeben, immer nach der Liebe. Sie hat es sogar im Krankenhaus gewollt, nach ihrer Blinddarmoperation, was auch ohne zu lieben in einem Dreibettzimmer aufregend ge­wesen ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir anfingen, unsere einsam gewordenen Sonntage mit Schwarzwälder Kirschtorten zu versüßen und manchmal trunken vom Ihringer Wein ins Bett zu fallen. Indes haben wir Jahre durchgemacht, in denen wir uns nicht anrührten.

Viel Geld habe ich nie verdient. Nur in der Zeit, als ich glaubte, ein Künstler zu sein, damals in der Provence, habe ich mehr Geld ge­habt als ich brauchte. Ich hielt es für viel.

Danach habe ich eine Stelle bei Schmidl & Cie angenommen, zu einem angemessenen Gehalt. Die Schmidl Kuckucksuhren kennt man ja in der ganzen Welt. Nur in Frankreich wusste man nichts von den schönen, geschnitzten Wanduhren, bei denen einem ein Vögelchen die vergangene Stunde besingt. Kuckkuck – kuckuck. Französisch habe ich widerwillig in der Schule gelernt. Eigentlich wollte ich mein Gehirn nicht weiter mit unregelmäßigen Verben und Konjunktiv belasten. Aber... ! Je t’aime. – Tu sais qu’est-ce

que ca veut dire ? Ich dachte, ich wüsste es. Da wollte ich mit die­sen redseligen Provenzalen mitquatschen und schäkern können, und ich begann die ungeliebte, dann doch geliebte Sprache, leid­lich zu beherrschen. Das hat mir dann als Schmidls Angestellter geholfen, die Kuckucksuhren in Frankreich zu verkaufen und in französische Wohnungen Schwarzwälder Romantik zu verbreite­ten. So lange Herr Schmidl lebte, habe ich jedes Jahr eine Gehalts­erhöhung bekommen, und immer ein wenig über dem, was nach dem Tarif Vorschrift gewesen wäre. Nach Schmidls Tod verkauf­ten seine beiden Kinder, Ariane und Baldur, die Firma an einen amerikanischen Investor. Die brauchten meine Französischkennt­nisse nicht mehr, weil die Uhren nicht mehr in Uhrengeschäften und provenzalischen Souvenirläden angeboten werden sollten, sondern in Supermärkten und Versandhäusern. Was dort verkauft wird, machen die Investoren unter sich aus. Sie wollten mich aus der Firma hinauswerfen. Aber der Buchhalter, Herr Jauch, machte mich auf eine Klausel in meinem Arbeitsvertrag aufmerksam, de­ren Bedeutung mir nie aufgefallen war. Warum sie in dem Papier stand, dämmerte mir auf Herrn Schmidls Beerdigung, als ich stau­nend erfuhr, mein Chef sei ein leidenschaftlicher Jazzmusiker ge­wesen und habe jeden Sommer während der Betriebsferien seiner Kuckucksuhrenfabrik das Altsaxophon in einer Kellerbar in der 18. Straße in New York gespielt. Bis zu seinem Tod mit 74 Jahren. Und er hatte mir seine Schallplatten vermacht. Bis ich in Rente kam, hatte ich nicht alle angehört. Es scheinen alle Aufnahmen zu sein, die in der Geschichte des Jazz von ihrem Beginn bis zum Tode Herrn Schmidls je verkauft worden sind. Ich musste mehr­mals mit dem Auto fahren, um die ganze Sammlung abzuholen. Weil ich in der Wohnung zunächst keinen Platz freimachen konnte, räumte ich Schmidls Hinterlassenschaft erst einmal in den Keller ein. Dabei fiel mir ein Päckchen auf. Ich öffnete es. Zwei Tonbänder mit Etiketten von Radio Monte Carlo kamen zum Vor­schein. Und zwei Briefumschläge. Neugierig riss ich einen auf. „Ich habe nicht nur ein Stück meines Herzens herausgerissen“, las ich auf einer Karte, „sondern alles, und habe seither keinen Ver­trauten mehr gefunden

für Grünspan, Sellerie, Spargel und Kastanienblüten. Yrida.“ In Tinte geschrieben. Das Wort Kastanienblüten verwischt. Eine Träne? Ich kenne die Schrift. Und habe die Tonbänder und den an­deren Brief erschrocken wieder eingepackt. Wenn die Karte in Schmidls Schallplattensammlung geraten ist, war meine Arbeit für die Kuckucksuhrenfabrik vielleicht nicht so bedeutungsvoll, wie ich mir eingebildet habe. Seit Herrn Schmidls Tod habe ich keine Gehaltserhöhung mehr bekommen. Von den zweihundert künstle­risch begabten Handwerkern arbeitet keiner mehr in der Firma. Die Kuckucksuhren werden am Stück gepresst und sind dem Schwarzwälder Fichtenholz gut nachgeahmt. Selbst aus der Nähe betrachtet erkennt niemand, dass das Gehäuse aus Plastik ist. Sollte die Uhr jemals von einer Wand fallen, zerbräche sie nicht. Die sti­lisierten Tannenzapfen an den Ketten sind nicht notwendig, weil ein batteriebetriebenes Quarzwerk die Zeiger bewegt. Das neueste Modell der Schmidl Kuckucksuhr wird über Funk gesteuert und projiziert auf Wunsch neben der Zeit auch das Datum, die Tempe­ratur und die relative Luftfeuchtigkeit an die Decke. Die Uhr kostet nur noch ein Zehntel des damaligen Preises. Sie wird in Südkorea hergestellt. Schmidl & Cie ist hier nur noch ein Büro mit drei Ver­triebsfachleuten und drei Computern.

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