„Hast du dein Gedicht selbst geschrieben?“
„Ja.“
„Ganz schön gewagt.“
„Was ist gewagt daran?“
„Brüste und Schoß schenken…“
„Was ist gewagt daran?“
„Dass du es sagst – und wie…“
„Von Liebeslust zu sprechen und zu schreiben finde ich nicht gewagt. Es ist Freiheit, darüber zu reden und zu schreiben. Man sollte es nicht unterdrücken. Über das Wie kann man natürlich diskutieren.“
Wir wanderten durch die Wohnung. Um uns tanzende Paare zur Musik. Bert Kämpfert mit schmeichelnden Trompeten. Überall mussten Lautsprecher versteckt sein. In einem Erker sah ich das Bild. Dezent beleuchtet. Alles in Elfenbein. Nur die Brustwarzen braun. Nackt vor dem Kachelofen. Nina. So nah. So groß. Als ob sie vor mir stünde. Ich musste meinen Arm zurückhalten, meine Hand. Nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Ich hätte ihr Haar gestreichelt, ihre Wangen, ihren Mund, ihre Schultern und alles… Und alles nur Farbe. Mir wurde heiß. Ich fühlte, wie ich rot wurde.
„Ich glaube, du kennst sie, Nina Kornasow“, hörte ich Ursulas dunkle Stimme, „die Freundin von Horst.“
„Ja. Ein wenig.“
„Horst hat auch von mir solch einen Akt gemalt. Im Wohnzimmer da hinten, im Licht der Dachterrasse. Wir waren mal zusammen. Danach hab ich ihm das Bild für tausend Mark abgekauft.“
Das lenkte mich von Nina ab. Ich betrachtete Ursula und versuchte, mit Fantasie den vielen Stoff um sie herum hinwegzuzaubern. Gewiss hatte sie nicht Ninas göttliche Figur. Sie war ja auch älter. Es würde alles nicht so fest sein. Fraulich. Weiblich. Musste nicht göttlich sein.
Ich sah in ihren Eulenaugen, dass sie sah, was ich dachte. Sie verzog ihren Mund zu einem breiten Lachen. „Horst hätte das Bild möglicherweise im Jazzkeller aufgehängt. Dass es irgendwo in seiner Wohnung blieb, wollte ich auch nicht. Ich habe nichts dagegen, nackt zu sein, in einem Bach und auf einer Wiese bin ich das gern, wie ich vorgetragen habe. Aber so lange ich lebe, möchte ich wissen, wer mich so ganz nah betrachtet.“
Jedenfalls konnte Horst Krohn auch schöne Bilder malen. An der gegenüberliegenden Wand hing aber wieder ein abscheuliches. Ein hässliches Männergesicht in verschmierten Farben.
„Das ist der weinende Mann“, sagte Ursula.
„Warum weint er denn?“
„Weil er die Welt scheiße findet.“
„Hätte er besser eine schöne Frau gemalt, die weint.“
„Frauen weinen nicht über die Welt, über ein totes Kind gewiss oder über einen Mann vielleicht…“
Auf einmal wurde die Musik von lärmendem Aufruhr übertönt. Die tanzenden Paare lösten sich und die am Boden kauernden, quatschenden oder schmusenden gingen auseinander. Horst Krohn torkelte herein. „Ich lebe wie es mir gefällt!“, schrie er. „Ich kenne keinen Zwang und keine Gesetze!“ Nina war bei ihm. Sie versuchte ihn zu umarmen, ihn fest zu halten. Er schüttelte sich und stieß sie heftig von sich. Sie stürzte zu Boden. „Ich bin Horst Krohn, der Freie!“, schrie er weiter. „Jubelt mir zu! Über mir ist niemand. Und unter mir der ganze Rest der Welt.“ Sein Bart zitterte. „Und unter dem Rest der Welt sind noch Frau Doktor und Herr Professor, Beschützer der Arier vor rassischer Verschmutzung! Die waren so blöd und wussten gar nicht, was arisch bedeutet…!“
Er hatte verrückte Augen. Zuviel getrunken?
„Der hat sich noch irgendein Zeug reingezogen.“
Nina war wieder bei ihm. Ihr Gesicht gerötet und ihre Haare nass. Warum trug sie nur einen Bademantel? Sie redete auf ihn ein. Beruhige dich. Beruhige dich. Es gelang ihr, Horst aus dem Kreis der Partygäste in ein anderes Zimmer zu ziehen. Einige lachten. Die meisten schwiegen verlegen. Die Musik wurde indes wieder allgegenwärtig. Come prima, come prima, sang der Italiener Tony Dallara. Musik zum Schmusen. Ich tanzte mit Ursula. Sie war schmiegsam. Jeden Schritt und jede Bewegung fühlten wir, als ob wir ein Körper wären. Ihr wurde warm, und sie zog ihren Pullover aus. So konnte ich mehr von ihr spüren. Und wir wogen uns weiter
im Takt, die Platters sangen Only you und Dietmar Schönherr hauchte, Ich suche die Liebe und finde sie nicht. Der Hausherr war
betrunken in irgendeinem Zimmer. Die Party ging trotzdem weiter. Betrunken waren dann auch noch andere Gäste und voll mit Zeug, wie Ursula bemerkte. Das kümmerte mich nicht. Ich wollte nur unsere simultanen Bewegungen spüren.
„Ich bin eigentlich kein Nachtmensch“, sagte sie irgendwann. Ob ich sie nach Hause bringen soll. Nein. Sie gehe jetzt lieber allein. Wir würden uns am Samstag im Jatsskäher sehen, vielleicht, und wenn ich sie dann immer noch so drücken wolle, könnten wir uns mal treffen, vielleicht… Sie küsste mich auf die Wange. Ich hielt eine Weile ihr Gesicht fest. Eulengesicht. Die Falten um den Mund konnte ich nicht mehr sehen. Nur den Kussmund. Sie strich sanft über meine Haare, bevor sie sich zur Seite drehte und ich allein unter den tanzenden Paaren war. Ella Fitzgerald sang Baby it’s cold outside. Ich ging in die Küche, um mir ein Bier zu holen. Ein paar Leute standen da um einen Tisch mit Gläsern und Flaschen in den Händen. Die Nazis hätten pseudowissenschaftliche Thesen über die Arier in ihr Glaubensbekenntnis aufgenommen, hörte ich da und blieb bei der Gruppe stehen. Weder stammten die Arier aus Norddeutschland noch seien sie blond und blauäugig gewesen. Wahrscheinlich seien sie aus Zentralasien nach Indien eingewandert. Ob sie das indogermanische Urvolk gewesen wären, könne man nicht sicher sagen. Aber das Sanskrit, das Iranisch, das Lateinisch, das Germanisch, das Slawisch, das Griechisch, also alle europäischen Sprachen außer Baskisch, Ungarisch und Finnisch, stammten von der arischen Sprache ab. Jeder Perser und die meisten Inder hätte also einen amtlichen Ariernachweis bei den Nazis bekommen müssen. Die Leute lachten grölend und stießen Gläser und Flaschen aneinander. Nachdem das geklärt war, nahm ich einen großen Schluck aus der Bierflasche. Ich versuchte Jürgen Hersfeld zu finden, entdeckte ihn aber nirgendwo. Er sei schon weggegangen, sagte man mir, mit Bärbel Reisnauer. Wer das war? Ich kannte ja fast niemanden hier, außer… Jürgen hätte mich mitnehmen können. Aber er wollte vielleicht mit Bärbel Reisnauer allein sein. Dabei war er verheiratet und hatte zwei Töchter. Wie spät war es? Oder wie früh? Unter einem Berg von Kleidern fand ich meinen Mantel. Viel zu dünn für diese nasskalte Jahreszeit.
Aber ich marschierte so stramm durch die Stadt, dass ich ins Schwitzen kam. Wie still die Stadt am frühen Morgen sein konnte. Es war nicht so weit bis in meine Wohnung. Marschieren war ich gewohnt. Es klopfte an meiner Tür, nachdem ich gerade eingeschlafen war, und duftender Kaffee wurde mir auf den Tisch gestellt.
Im Büro schwirrten mir die Zahlen der Lohnscheine vor den Augen. In der Spulenwicklerei und in der Montage arbeiteten überwiegend Frauen im Akkord, im Großgerätebau überwiegend Männer. Es fiel mir schwer an diesem Donnerstag, bei den Akkordüberschreitungen, die ich bei Frauen und Männern gerecht gleichmäßig durchgehen ließ, keine aus Versehen zusätzlich passieren zu lassen. Die Heftigkeit der eventuellen Rüge wollte ich schon selbst bestimmen.
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