Gelegentlich traf ich Fräulein Schormann. Auf dem Weg zum Bad trug sie einmal ein dünnes Leibchen. Wir wechselten ein paar Worte. Wie geht’s. Bei einer Bewegung wellte sich der Stoff und gab einen Blick auf eine ihrer Brüste frei. Kleine Brüste. Ich benützte noch immer ihr Handtuch, wenn ich mich wusch oder mich badete. Sie schien es nicht zu merken. Bevor ich ein Radio kaufte, musste ich mir unbedingt ein paar Handtücher besorgen. Im Treppenhaus hatte sie einmal enge, röhrenförmige Hosen an. Sie erinnerten mich an Arbeiterkleidung, schienen in Mode zu kommen, besonders bei Leuten, die jünger als sie und ich waren.
Eines Abends lief ich Frau Grabowsky in die Arme. Eine kräftige Frau mit stämmigen Beinen in einem grauen Kleid. Sie hatte eine laute Stimme, und ich wunderte mich, sie noch nie gehört zu haben. Alle benützten die Küche, aber niemand putze sie richtig. Ob ich sie denn schon mal gereinigt hätte. Warum? Ich war nur einmal in der Küche gewesen, um beim Abtrocknen zu helfen. Sie schüt-telte missbilligend den Kopf. Ich konnte in mein Zimmer entkommen.
Die Tage wurden immer kürzer. Man ging im Dunkeln zur Arbeit und kam im Dunkeln zurück. Mitte November wurde der Nebel so dicht, dass Straßenbeleuchtung und Autoscheinwerfer ihn kaum durchdringen konnten und man als Fußgänger leicht die Orientierung verlor. Restaurants und Kneipen waren abends voller Menschen, und auch im Jatsskäher drängten sich viel mehr Leute als zuvor. Flaschen und Gläser mussten mit Rufen und Schubsen zu den Gästen balanciert werden. In dieser Nacht reichte Horst Krohn jedem von uns Musikern vierzig Mark über die Theke.
Der Mittwoch darauf war Buß- und Bettag, an dem keine Probe stattfinden sollte. Horst Krohn hatte stattdessen zu einer Party in seine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses geladen, in dessen Keller wir den Jatss feierten. Jürgen Hersfeld holte mich mit seinem VW Käfer ab.
„Willkommen im Haus von ehemals ehrlich überzeugten Nazischweinen“, begrüßte er uns mit theatralischer Pose an seiner Wohnungstür. „Vor dem Geruch von Toten braucht ihr euch nicht zu ekeln. Frau Doktor Krohn und Herr Professor Krohn haben ihre Taten in Ravensburg vollbracht, alles für die Wissenschaft, nur unwertes Leben ist verschieden. Und die Überlebenden werden nun von ihnen mit Medikamenten gegen ihre leiblichen und seelischen Schmerzen behandelt. Ich darf das jeden Tag sagen. Ihr aber nicht, weil ihr sonst Ärger mit Anwälten bekommt, die auf solche Verleumdungen spezialisiert sind.“
Er führte ein Glas zum Mund und trank es leer. Whisky. Es war sicher nicht der erste heute Abend. Schwankend ging er voraus. Wir betraten eine geräumige, mit vielen kleinen Lampen beleuchtete Diele, deren Wände und Decke mit beige gestrichener Raufaser tapeziert waren. Grässliche Bilder hingen hier, verzerrte Gestalten mit schrecklichen Gesichtern, ähnlich wie in der Cantina Guernica, und einige plastische Werke aus Gips, grell mit Ölfarben beschmiert, Drahtnetze und Nägel und anderes Zeug darin eingear-arbeitet. Wenn das Kunst sein sollte…! Wir stiegen über die Beine eines jungen Mannes, der an der Wand gelehnt saß, ein Glas neben sich auf dem Boden. Alle anderen Partygäste befanden sich hinter dem Bogengang in einem großen, schwach beleuchteten Raum, dessen Decke der Giebel des Hauses war. Sie kauerten auf Kissen und niedrigen Bänken an den Wänden, Mädchen, Frauen, Jungen, Männer, und ich fragte mich, ob man am Gesicht oder am Körper erkennen könne, ob ein Mädchen Frau oder eine Frau Mädchen war und ob unter den Jungen, Männern, auch Jungmänner waren. Als Jungmann fühlte ich mich natürlich nicht, wegen der Brigach und des Grünen Baumes und – ach ja – des Teppichs an einem warmen Kachelofen. Das tat alles weh, aber es gab einem Sicherheit unter so vielen Fremden. Ein Junge, ein Mann, ein junger Mann stand aufrecht in der Mitte und trug etwas vor:
„An den Wintermond
Dein Licht trifft den Pfad
Mit silbernem Schein
Aus Dunkel erwacht Wald
Und möchte verzaubert sein.
Dein gütiges Mondgesicht scheint
Durch’s Geäst in die kalte Welt
Der Schnee dankt es mit Funkeln
Hinauf zum Himmelszelt.
Angeber! Du selbst leuchtest gar nicht
Bist nur aus totem Gestein
Und mein Bruder wird bald einmal
Über deine Nase gelaufen sein.
Doch zu spät ist’s für kluge Gedanken
Deine Magie hat mich gefangen
Dich hätt’ die Geliebte ja auch gesehen
Wäre sie nur an das Fenster gegangen.“
Von den Partygästen hörte man murmeln, vielleicht anerkennende Zustimmung, einige klatschten gar. Der junge Mann verbeugte sich und trat zur Seite. Eine Frau war auf einmal in der Mitte. Kein Mädchen. Eine Frau. Nicht ganz jung. Wo war Horst Krohn geblieben? Und Jürgen Hersfeld war auch irgendwo. Jemand reichte mir ein Glas mit einem komisch, säuerlich schmeckendem Getränk. Tequila mit Limonen, erfuhr ich. Die Frau hatte lange, dunkle Haare, runde Augen und eine scharfe Nase, was mich an eine Eule denken ließ. In dem Schummerlicht war nicht zu erkennen, wie alt sie war, zumal sie ihren Körper unter weit fallenden Stoffen und Wolle verbarg. Aber was sie mit dunkler Stimme nun vortrug, weckte erregende Fantasien:
„Frühling
Nackt wat ich den Bach stromauf
Auf glatten Steinen durch die Flut
Das munt’re Rauschen nimmt mich auf
Die linden Lüfte tun so gut
Die Sonne fühl ich auf der Haut
Und prickelnd kalt des Wassers Fließen
Der Erde Moder wird vertraut
Und überall lichtgrünes Sprießen.
Meine Brüste will ich schenken, meinen Schoß
Auf jener grünen Wiese dort
Und Lippen, Atem, Salz ich kos
Wir lieben uns, o Frühling, immer fort.“
Für die anderen war dies offenbar auch ein aufregendes Gedicht. Sie klatschten und lachten, manche Lacher klangen wie auf der Hochzeit im Schönbucher Wald. Mussten erregende Vorstellungen vulgär sein? Die Frau schaute sich im Raum um. Suchte sie einen Platz? Sie kam auf mich zu. Tatsächlich war neben mir etwas frei. Ich rutschte zur Seite. Sie hockte sich hin, die Beine im Schneidersitz geöffnet, ihr dunkler Rock darüber, und nahm mir mein Glas aus der Hand. Sie trank einen Schluck. Dann wies sie mit dem Glas in den Raum. Ich sah Iker dort stehen. In Baskisch hätten ihn keiner verstanden. Aber sein Gedicht in Spanisch auch nicht viele.
„De una del mar gris
Te regalo mi voz
Te regalo mi cuerpo
Te regalo mi sangre
Te regalo mi corazón
Te regalo mi dolor
Y un rayon illusiónes.”
In ein paar Stunden Volkshochschule und bei dem Chilenen hatte
ich nicht viel gelernt, doch verstand ich, eine am grauen Meer schenkte einem ihre Stimme, ihren Körper, ihr Blut, ihr Herz, ihren Schmerz und Illusionen dazu. Das war ebenfalls aufregend, fand auch die Frau an meiner Seite, die mit dunklem Ah dem Text zustimmte und an meinem Glas nippte. Sie stieß mir dabei ihren Ellenbogen in die Seite. Ich hielt unwillkürlich ihren Arm fest. Überrascht wandte sie sich mir zu. Ein Eulengesicht mit zwei Falten zwischen den runden Augen und einem vollen Kussmund unter der scharfen Nase. Sie zog ihren Arm nicht zurück, sondern drehte ihren Körper zu mir, im Schneidersitz, das Glas balancierend, und stützte sich mit ihrem spitzen Ellenbogen auf meinem Schenkel ab.
Das konnte ich tapfer ertragen. „Wo kann man sich hier etwas zu trinken besorgen?“ fragte ich.
„Ach!“ Sie gab mir mein Glas zurück. Es war leer.
„Komm mit. Ich weiß wo.“
Noch einmal der spitze Ellenbogen. Die Gedichtstunde schien beendet zu sein. Musik war zu hören. Edith Piaf sang Je ne regrette rien. Ich folgte der Frau an schmusend tanzenden Paaren vorbei. Eine Glasfront führte auf eine Dachterrasse hinaus. Durch geöffnete Türen wehte ein kalter Hauch herein. Die Lichter der Stadt schimmerten durch den Nebel. Straßenlärm drang herauf. Wir kamen in die Küche. Einen Augenblick blendete das helle Licht. Ein paar Leute schwatzten vor dem Kühlschrank. Sein Inneres war mit dickem Eis überzogen weil er dauernd geöffnet wurde. Und jetzt von der Frau natürlich. Wie hieß sie denn? Ursula. Bier und Wein gab es in dem Eis und Whisky und Wodka und sonst noch Getränke, die ich nicht kannte, und auf einer Anrichte neben dem Kühlschrank standen unzählige Gläser, große und kleine und unzählige Flaschen mit bunten Etiketten und buntem Inhalt, rot und blau und weiß… Ich sei der neue Trompeter. Ja. Ein Bier hätte ich gerne. Sie mochte am liebsten Tequila mit Limonen. Um ihren Mund waren winzige Falten. Die Tusche um die Augen war verschmiert.
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