Die Firma musste mich behalten, bis ich sechzig Jahre alt geworden war und mir dann noch eine Abfindung bezahlen. Damit konnten Karin und ich den Rest der Hypothek ablösen, die wir aufnehmen mussten, um unsere Wohnung von der Schwarzwaldbau zu kaufen, als die Genossenschaft privatisiert wurde. Diese Abfindung hat unsere Haushaltskasse saniert.
Mit dem Gehalt, das ich bekam, ist Karin, immer ausgekommen. Auch als sie selbst nichts hinzuverdienen konnte, hielten wir uns nicht für arm. In unserem Block waren wir die erste Familie, die einen Farbfernseher hatte, als die drei Programme bunter wurden. Karin führte einen ordentlichen Haushalt, kochte, putzte, wusch Wäsche, wir hatten natürlich eine Waschmaschine, es war viel Arbeit mit Simones Windeln, Ricos Windeln habe ich nicht erlebt. Karin und ich waren da nicht zusammen. Ich habe auch nicht glauben wollen, Ricos Vater zu sein, bis meine Mutter mir schwor,
Karin habe den dicken Bauch schon gehabt, bevor sie Ricardo kennenlernte. Einen italienischen Feinmechaniker aus Turin. Bei der Geburt des Jungen habe Karin ihm den Namen Rico nur gegeben, weil der Italiener der einzige Mann auf dem Schlesierball gewesen sei, der mit der Schwangeren getanzt habe. Auch danach habe er sich um sie gekümmert. Er habe sie sogar heiraten wollen, diese, obwohl schwanger, magere Deutsche, mit dunkelblauen Augen, wie er sie noch nie gesehen hätte.
Seit ich in Rente bin, finde ich Zeit und Muße, Herrn Schmidls Jazzsammlung zu hören. Karin mag diese Musik nicht. Sie hört lieber alte Schlager mit Caterine Valente oder Rudi Schuricke und Tanzmusik mit den Orchestern Kurt Edelhagen oder Erwin Lehn, vielleicht auch mal etwas von Glen Miller. Als Karin und ich uns wieder mochten, habe ich mir das Zimmer, das einmal den Kindern gehörte, zu einem Musikzimmer einrichten dürfen. Herrn Schmidls Schallplatten beherrschen den Raum. Sie sind in Regalen aufgestellt, nach den Jahren der Aufnahme geordnet, was sehr viel Mühen bereitet hat. Besonders bei alten Schallplatten ist das Datum der Aufnahme oft nicht angegeben. Ich musste sie dem Stil nach der Zeit zuordnen, in der sie bespielt worden sein konnten, und mich dabei auch an der Aufnahmetechnik orientieren. Die Aufnahme einer New Orleans Band aus den Zwanzigern klingt ja anders, wenn sieben Musiker in ein Mikrophon spielen als die einer aus den Sechzigern, selbst wenn sie stilgetreu musizieren, weil jeder in ein eigenes Mikrophon spielt und der Toningenieur hernach die Instrumente zusammenfügt. Ob ich alles richtig geordnet habe, ist somit gar nicht sicher. Ich bin auch noch lange nicht durch. Aber ich kann mich gut orientieren, wenn ich mich beim Hören in einen Stil verlieren will, in Chicagoer Swing oder in Cool Jazz, je nach Stimmung, mal fröhlich, mal im Blues. Hierfür habe ich eine hochwertige Stereoanlage mit einer Leistung von 1000 Watt. Wenn ich sie jemals voll aufdrehte, zersprängen die Fensterscheiben. Meine Jazzkonzerte gehen natürlich nicht über Zimmerlautstärke hinaus. Einmal vielleicht doch. Es werden gleich allerlei Kontrollmechanismen aktiv. Ermahnungen, bitte Liebling, Klopfen an der Wand, Unerhört-Geschrei von unten, ein schrilles Telefon… Da bleiben einem nur die Kopfhörer. Aber mit den Muscheln an den Ohren findet das Konzert nur im Kopf statt. Dabei müssten die große Trommel und die Posaune den Brustkorb zum Vibrieren bringen und die spitze Trompete durch Mark und Bein brennen und… Aber nicht einmal mit 1000 Watt aus Lautsprechern, wenn man sie aufdrehte, wäre es so wie in einer Session mitten unter den Musikern.
Gelegentlich musiziere ich selbst, probiere auf einem Keyboard herum, das wir uns mal gekauft haben. Kein schlechtes Instrument. Man kann sich den Rhythmus mit allen möglichen Schlaginstrumenten einstellen, so solide gespielt, wie man es von einer Maschine erwarten darf, immer gleichmäßig weiter bis zum Einschlafen. Man kann den Klang eines ganzen Orchesters mit Bläsern und Streichern imitieren, kann Posaunen von Jericho donnern lassen, kann meine dünne Stimme dazu aufnehmen und zu einem brausenden Chor verwandeln, Freude schöner Götterfunken, alles mit Hilfe des Computers. Auf dem Keyboard kann ich alles ausprobieren, nur das Piano nicht, weil man da mehr können muss als Tasten zu bedienen, die Rhythmus, Akkorde und eine Melodie mit Orchesterklang erzeugen. Wie das Piano eines genialen Virtuosen klingt, habe ich im Kopf. Ich höre immer Jean Christan Viennois spielen, das Piano, wie Sekt perlen die Töne durch mein Gehirn, und dann treibende Akkorde, gegen den Rhythmus, spielerisch eingeworfene Töne dazwischen, die einen auffordern, inspirieren. Ich werde verrückt mit diesen Erinnerungen, lege eine CD mit einem Konzert von Serge Rachmaninow auf, die Moskauer Philharmonie unter der Leitung von Dimitri Kitaenko, und Jean Christian ist am Flügel. Die schwermütige Musik wühlt mich auf. Aber sie beruhigt mich auch. Die CD habe ich mal aus St. Petersburg geschickt bekommen. In Herrn Schmidls Sammlung gibt es indes keine Schallplatte oder eine CD von Jean Christian. Er hat doch auch mal den Blues gespielt.
An einer freien Stelle zwischen den Regalen hängt Jürgen Hersfelds verbogene Posaune an der Wand. Sie hat eine Party, damals noch in Stuttgart, nicht überlebt. Wir haben danach gesammelt, um Jürgen eine neue zu kaufen. Meine Mutter erzählte, Karin habe das demolierte Instrument mitgebracht, als sie bei ihr eingezogen ist. Hier habe ich dann auch meine Trompete aufgehängt. Neben der Posaune. An einen Nagel. Im wahrsten Sinn des Wortes, an den Nagel gehängt.
Eigentlich ist das Musikzimmer zu groß, weil ich meistens allein bin, um Jazz zu hören, zu träumen und auch mal ein Stück zu komponieren. Der Architekt hatte es als Schlafzimmer ausgewiesen und für Kinder einen viel kleineren Raum vorgesehen. Zum Glück befinden sich in der Nordseite zwei Fenster so weit auseinander, dass wir eine dünne Wand dazwischen ziehen konnten, als Simone auf die Welt kam. Wir wollten für den Jungen und das Mädchen jeweils einen eigenen Raum schaffen und zogen mit Bett und Schränken in das Kinderzimmer. Für Rico und Simone richteten wir so zwei hübsche Kinderreiche ein. Es ist lange her, dass hier gespielt, gelacht, geweint und gestritten wurde. Ein ganz anderes Leben ist das gewesen. Ich hatte es mir so nicht gewünscht und glaubte lange Zeit, ich sei nur aus Versehen in die Rolle des sorgenden Familienvaters geraten. Irgendwann würde man mich wieder entdecken. Und ich träumte, Yrida würde mich suchen. Aber die sichere Existenz als Schmidls Angestellter, die treue, adrette Ehefrau, Windeln, Kindergarten, Schule, fröhliches Beisammensein, Streitereien, was würde der Junge studieren?, welchen Beruf wollte das Mädchen wählen?, Weihnachtsfeste, Ostereier, Sommerferien an der Adria, ein überschaubarer Weg für uns ins Alter mit einer ausreichenden Rente, nicht reich, nicht ganz arm, wir wählten sozialdemokratisch, die Kinder würden es besser haben, ich bekam Geheimratsecken, die Zeit eilte dahin. Nicht die Erinnerungen, aber meine Sehnsucht wurde blasser. Führte ich nicht ein bequemes, gutes Leben? Nur wehrte sich Karin, wenn ich das Jazzlokal besuchen wollte, das ein paar Jahre in der Metzgergasse geöffnet hatte. Ich hätte ja meine Schallplatten. Und zu einem Urlaub in Südfrankreich konnte ich sie nie überreden.
Dass wir alle glücklich gewesen sein müssen, merkte ich erst, als Rico ums Leben kam. Ein sanfter, zierlicher Junge mit den braunen Haaren seiner Mutter und ihren dunkelblauen Augen. Er war ordentlich, umsichtig, fleißig in der Schule mit annehmbaren Noten, leider nicht musikalisch. Er hatte überhaupt keine musische Begabung. Damit konnte ich leben. Er machte keine Dummheiten und schlug nie über die Stränge. Solch einem Jungen passiert gewöhnlich nichts.
An einem sonnigen Samstagmorgen im Juni fuhren Rico und vier seiner Freunde mit ihren Rädern in den Wald, der hinter dem Kirnacher Bahnhof beginnt. Sie zogen einen Grill hinter sich her und Würste und Steaks und einen Kasten Bier, um ein zünftiges Freundschaftsfest zu feiern. Es wollten noch andere Buben zu ihnen stoßen. Die Brigach macht hier ab und zu einen Bogen an den Bahndamm heran. An einer Stelle öffnet sich der dunkle Fichtenwald zu einer Lichtung mit Weidenbüschen am Ufer und einer satten Wiese, auf der in dieser Jahreszeit Löwenzahn, Giersch und Sauerampfer blühen. Der Bahndamm mit den Geleisen schadet dieser Idylle nicht. Die gemütlich vorbeiziehende Schwarzwaldbahn unterstreicht die wilde Natur um den über rote und graue Kiesel sprudelnden Bach. Reisenden auf dem Weg von Offenburg nach Villingen wird diese Lichtung kaum auffallen. Sie lassen sich leichter einfangen von dem aufregenden Wechsel, immer wieder nach finsteren Tunnels über grüne Täler zu schweben, an Wiesenhängen vorbei mit abgelegenen Bauernhöfen und dann von einem weiten Blick über blauschwarzbewachsene, bucklige Berge. Hinter St. Georgen ist die Landschaft hügelig mit ausgedehnten Wiesen. Wenn danach der Wald beginnt, kann wohl kein Fremder die Lichtung in Erinnerung behalten, die sich für einen Moment an seinem Fenster vorbeidreht.
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