„Dass du das noch nicht aufgemacht hast?“ Hanne schüttelte verwundert ihre braunen Locken. „Ich wäre umgekommen vor Neugier!“
„Wirklich?“, rief Nomo in gespielten Erstaunen. „Das hätte ich ja nie von dir gedacht! Du und neugierig? Gott bewahre!“
„Altes Lästermaul!“, schimpfte Hanne, wobei sie kaum gegen das gutmütige Gelächter ihrer Kollegen ankam. „Von wem ist das Paket überhaupt?
Roy hob das schmale, längliche Paket an und warf einen Blick auf das Versandetikett. „Die verschnörkelte Handschrift ist kaum zu entziffern, aber ...“
„Handschrift? Wer schreibt denn heute noch Versandetiketten von Hand?“, krähte Hanne dazwischen.
„Unterbrech' mich eben nicht, dann kann ich es dir sagen!“, wies Roy die Astronavigationsspezialistin zurecht. „Es kommt aus meiner Heimat Southampton in England. Und wenn ich den Absender richtig entziffere, kommt das Paket von meinem Großonkel Rodwin.“
„Du hast einen Großonkel?“, wollte Harriet wissen. „Ich dachte, du bist der letzte Anthony in deiner Familie. Jedenfalls hast du nie was von dem Mann erzählt.“
„Ich kenne ihn auch kaum“, erzählte Roy. „Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir mal in seinem Herrenhaus zu Besuch waren, als ich noch in die Vorschule ging. Seitdem habe ich nie wieder mit ihm zu tun gehabt. Nach dem Tod meiner Eltern kam wohl mal ein Brief, aber den habe ich nie gelesen.“
„Höre ich richtig? Herrenhaus“, hakte Glenn neugierig nach.
„Ja, mein Onkel ist ein Earl und besitzt ein richtiges, altes englisches Herrenhaus, wie man es aus diesen Historienschinken kennt!“
„Was? Ein richtiges Herrenhaus – und aus einer Adelsfamilie stammst du auch noch ab?“ Karin machte große Augen bei dieser Vorstellung.
„Hat sich was, Adelsfamilie!“, wehrte der schlanke Brite ab. „Mein Großvater hatte 'unter seinem Stand' geheiratet, wie es so schön hieß. Daraufhin wandte sich die Familie von unserem Zweig ab.“
„Die lieben Verwandten ...“ Nomo schüttelte seinen Kopf. „Dass das im 24. Jahrhundert immer noch so ist, kann eigentlich nur in England passieren. Ihr mit eurem ganzen Adel und so ...“
„He, nichts gegen unseren König!“, widersprach Roy. „Wir waren, sind und bleiben überzeugte Royalisten. Und die Touristen stehen drauf. Nur zu unserer Adelslinie hatten wir keinen Kontakt mehr. Es interessierte uns auch nicht. Er fand in unserem täglichen Leben einfach keine Beachtung mehr.“
„Und was will dein Großonkel jetzt von dir?“, erkundigte sich Karin. „Was für ein Adliger ist er überhaupt?“
„Oh, warte, da muss ich kurz nachdenken ...“, antwortete Roy und kratzte sich grübelnd an der Stirn. „Ich glaube sein Titel lautet Sir Rodwin, der 24. Anthony, Earl of Bakerbourough. Aber ich habe keine Ahnung, was er von mir will.“
„Eindrucksvoller Titel!“, meinte Karin. Und sie fuhr fort: „Warum machst du das Paket denn nicht auf? Dann werden wir alle erfahren, was dein Großonkel von dir will. Ich glaube, wir sind jetzt alle neugierig geworden, was Leute?“
Einhelliges Nicken und beifälliges Gemurmel war die Antwort. Also riss der schnurrbärtige Engländer die Verschlusslasche des etwa 1.50 Meter langen, und mit 15 auf 15 Zentimeter quaderförmigen Pakets auf. Als erste fiel ein altertümlicher Brief aus echtem Papier auf den Tisch ihrer Sitzgruppe.
„Hoppla ...“, entfuhr es Roy, doch bevor er danach greifen konnte, hatte sich diesen schon Hanne gegrapscht.
„Darf ich …?“ Sie hielt den Brief in die Höhe und schaute den Kollegen treuherzig an.
„Wenn ich nein sage, platzt du dann?“, stellte der amüsiert eine nicht ganz so ernst gemeinte Gegenfrage.
„Könnte dir so passen, mein Freund!“, lautete die kecke Antwort der Griechin. „Also?“
Roy seufzte. „Na, lies schon vor.“
Hanne fackelte nicht lange und entfaltete das kostbar aussehende Papier.
„Toll – scheint Hand geschöpft zu sein“, sagte sie beeindruckt. „Und es hat sogar ein Wasserzeichen!“
„Wolltest du nicht vorlesen?“, meinte Roy ungeduldig.
„So, sind wir also selbst neugierig geworden? Na gut, hier steht:
'Mein lieber Großneffe, du wirst dich sicherlich wundern, auf diese Art und Weise von mir zu hören. Nach all den Jahren der Entzweiung unserer Familienzweige erschien mir das als der für beide Seiten angenehmste Weg gewesen zu sein. Nun denn …
Ich schreibe dir, weil aus unseren Familie nur noch zwei Mitglieder am Leben sind. Bald wird sogar nur noch einer von beiden übrig geblieben sein.
Der eine der beiden bist du, mein lieber Roy, der andere, das bin noch ich. Die Betonung liegt auf 'noch', denn ich spüre, dass sich meine Tage dem Ende entgegen neigen. Ich nicht allzu ferner Zukunft folge ich meinen Ahnen und meiner lieben Eleonore, die diesen Weg schon vor viel zu vielen Jahren gehen musste.
Darum trete ich Dir, lieber Roy, zum Ende diesen Jahres, den Titel und den gesamten Besitz derer von Bakerbourough ab. Du wirst außerdem Erb-Peer im britischen Oberhaus, der zweiten Kammer des Regionalparlaments. Dein Titel wird lauten 'Sir Roy, der 25. Anthony, Earl of Bakerbourough'. Der mit übersandte Erbdegen soll Zeichen deines Amtes und deiner Würde sein. Dieser Degen soll einen wahren Bakerbourough unbezwingbar machen. Es liegt nun an dir, was du aus deinem Titel, deinem Besitz und deinem Erbe machst. Vielleicht versöhnt das die getrennten Zweige unserer Familie wieder. Und vielleicht endet unser Geschlecht nicht mit dir. Und vielleicht kommst du, um an meinem Grabe zu trauen. Das wäre schön, denn dann erscheint wenigstens ein Mensch zu meinem Gedenken.
Alle notwendigen Unterlagen sind in der Kanzlei Blourish, Peckham, Abbot & Associated in Southampton hinterlegt.
Nun entbiete ich dir einen letzten Gruß in großer Zuneigung und dem noch größeren Bedauern, dass wir Zeit unseres Lebens so wenig Teil am Leben des jeweils anderen hatten. Wäre mir diese Einsicht doch bloß früher gekommen.
In aufrichtiger Verbundenheit
Dein Großonkel Rodwin“
Hanne ließ den Brief sinken, und für einige Momente herrschte am Tisch stille Betroffenheit, gepaart mit großer Überraschung, denn das Leben Roys hatte mit diesem Brief eine völlig unerwartete Richtung eingeschlagen.
Es war Tom Carna, der das allgemeine Schweigen wieder brach.
„Erwarte nur nicht, dass ich dich an Bord künftig mit 'Sir Roy' anspreche!“, sagte er augenzwinkernd.
„Ach du meine Güte!“ Nomo fasste sich an die schwarze Stirn. „Jetzt haben wir einen richtigen Adligen in der Crew. Das heißt, wenn er noch weiter mit uns fliegen wird, denn nun sind wir ja unter seinem Stand!“
„Nomo Teniate!“ Roy sprach laut und betont und richtete dabei seinen Zeigefinger wie einen Dolch auf die muskulöse Brustpartie seines Kollegen.
„Er redet Stuss. Und er wartet, bis ich den Degen derer von Bakerbourough ausgepackt habe, um ihn damit zu strafen!“
„Nur zu!“, forderte der Gescholtene auf und entblößte dabei zwei Reihen strahlend weißer Zähne.
„Du wirst es bereuen, Mann aus Afrika ...“, setzte Roy noch theatralisch hinzu, während er dabei war, das längliche Paket aufzureißen. „Ich weiß gar nicht, was sich mein Großonkel gedacht hat,“, gab er dabei von sich. „Könnt ihr euch mich als Earl und im Parlament vorstellen? Also ich nicht. Und was soll das mit dem Degen, der einen unüberwindbar machen soll? Das ist … Wow!“
Der Engländer machte große Augen, als er das Familienerbstück in der Hand hielt. Es war eine kostbar gravierte, silberglänzende Scheide, fein ziseliert und mit aufwändigen Gravuren. Darin steckte ein Offiziersdegen mit einem kunstvoll gestalteten Degengriff, offenbar auch aus Silber gefertigt, mit Elfenbeineinlagen. Während der Kommunikationsspezialist die Waffe aus ihrer Scheide zog, bekam er immer glänzendere Augen.
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