Velmond wurde bei seinen Träumen geradezu von Langeweile ereilt. Wie erträumenswert wäre so ein Leben? Für ihn ein Graus! Gut: Anschließend käme vielleicht die Physiotherapeutin. Man geht zusammen in den Fitnessraum (Fingerabdrücke?), oder es kommt eine Freundin, oder der Psychiater, der Rechtsanwalt, der Finanzberater, der Bankdirektor: Man empfängt ab 11 Uhr. (Es sind jede Menge Nachforschungen nach solchen Gesprächspartnern anzustellen.) Wichtig: Welchen Hausarzt, welchen Gynäkologen hat sie gehabt? (Gesprächstermine vereinbaren). Auch an das Undenkbare denken - aber die Spurensicherung schöpft Verdacht: Es gibt einen Geliebten!? Einen Gigolo? Fingerabdrücke im Bad, im Schlafzimmer, und Rasierutensilien. Es werden Haare sichergestellt für DNS-Analysen.
Aufschlussreich ebenso die hallenähnliche, voll bis an die Decke weiß geflieste Garage für vier Fahrzeuge. Nur ein VW-Golf älteren Baujahres steht noch darin. Dafür kann man viele relativ frische Reifenspuren feststellen. Die Garage war übrigens nicht verschlossen. Ebenso nicht das Tor zur Garagenauffahrt.
Wo bleibt die Verwandtschaft? Wo lebt sie? Ein Sohn in Locarno. Eine Tochter in Neuseeland. Die Schwieger-Familie? „Ach Velmond“, sagt er zu sich selbst, „es gibt wahnsinnig viel zu tun. Wieso kann eine solche Dame einfach nur verschwinden, entschweben? Augustes Himmelfahrt? Hudefarth und Meissner - der reine Wahn! Mögen bitte beide Damen wieder auftauchen oder sich aus irgendeinem Millionärsparadies melden!“
Der Bericht der Meissner-Spurensicherung, der zwei Tage später mit DNS-Analyse auf seinem Tisch liegt, lässt seine Hoffnungen platzen, führt jedoch zu einer ungeheuren Dramatisierung:
Fingerabdrücke aus der Garage, an Gartengeräten und aus dem Bad sowie im Schlafzimmer der Meissnerin beweisen eindeutig, dass es sich beim Gärtner, beim Chauffeur und - quelle delicatesse - beim Liebhaber um ein und dieselbe Person handelt, und zwar, wie die inzwischen eiligst herbeizitierte, nervlich total gestresste Putzfrau zu berichten weiß, um einen Studenten aus Russland oder der Ukraine, Vladimir Sonstwas, den Nachnamen hätte sie nie verstanden. Vladimir sei ein rechtes Mannsbild gewesen, kräftig, stets hilfsbereit, sehr nett. Frau Meissner habe immer wieder betont, er stamme aus uraltem Adel. Daher sei der größte Teil seiner Familie nach irgendeiner Revolution entweder umgekommen oder nach Frankreich geflohen. Der Vladi habe noch einen Bruder, der ebenfalls an der Technischen Hochschule in München studiert, irgendwas mit Architektur oder Bautechnik. Sie wisse nun auch nicht, weshalb Frau Meissner, eine sonst so korrekte und äußerst angesehene Dame, völlig überraschend, sozusagen Hals über Kopf, mit dem Vladimir verreist sei. Vor ungefähr zehn Tagen. Da habe sie vergeblich geläutet, immer donnerstags habe sie ja eine Etage durchgeputzt, und immer die Balkone und Terrassen.
Sie habe sich nur gewundert, dass die Toreinfahrt offen stand und die Garage. Der bullige BMW sei weg gewesen und der Sportwagen, so ein Porsche. Sie verstehe von Autos nichts. Das sei schon sehr ungewöhnlich gewesen; denn sonst habe Frau Meissner sehr darauf geachtet, dass alles mehrfach abgeschlossen ist und die Alarmanlagen eingeschaltet sind. Es gäbe ja auch eine Video-Überwachung sämtlicher Zugänge. Die habe der Russe, also der Vladimir, installiert.
Auf dem Girokonto der Frau Meissner sei jeden Monat ein Betrag von 7000 Euro eingegangen, überwiesen von einer Bank in Monaco, berichtete der Sparkassen-Direktor. Ihr vermutlich beträchtliches Vermögen, soweit es in Geld, Wertpapieren, vermutlich auch in Gold oder so, habe sie wohl in Monaco, in Liechtenstein und in der Schweiz verwalten lassen. Näheres wisse wohl nur das Finanzamt, vorausgesetzt, dass dort alles ordnungsgemäß deklariert worden sei. Selber habe Frau Meissner eher bescheiden gelebt, nie protzig, großzügig in der Unterstützung von caritativen Initiativen. Es sei eben ein himmelweiter Unterschied zwischen Neureich und altem Adel.
Verheiratet? Nein, verheiratet sei die Dame seines Wissens nach nicht gewesen. Vielleicht geschieden? Jedenfalls nicht wieder verheiratet. Dazu wohl zu scheu, zu verschlossen. Kinder? Davon wisse man hier nichts. Ein Sohn? Eine Tochter? Vielleicht gäbe es ja ein Vorleben, von dem man hier in Starnberg nichts wisse.
In der „Soko Witwen“ summte es wie in einem Bienenkorb. Vladimir und Aleksandr Romanow waren in der TU München immatrikuliert, beide mit Fachrichtung Beton-Bau. Wohnhaft sei Aleksandr wo gewesen? Bei Hermine Hudefarth!
Jetzt gingen auch bei den oberen Chefs die roten Lampen an. Wäre es möglich, dass Vladimir und Aleksandr Frau Meissner am Steg abgeholt und mit hoher Geschwindigkeit nach Liechtenstein oder Monaco abgebraust seien, um dort durch Frau Meissner höchstselbst die Konten zu plündern, die Dame umzubringen und dann in Richtung Ukraine abzudüsen?
Dieser Verdacht bestätigte sich – leider. Hätte man dem Durchsuchungs-Antrag von Velmond umgehend zugestimmt, wäre zumindest der Vorsprung der beiden wesentlich geringer ausgefallen. So müsste man davon ausgehen, dass die beiden Ganoven längst irgendwo mit ihrer Beute untergetaucht sind.
Übrigens – der DNS-Abgleich mit den Spuren auf dem Erpresserkuvert und Spuren in der Starnberger Luxusgarage deutet auf das räuberische Duo.
Spurensuche im Haus der Anna-Luise Falke
Ausgerüstet mit allen Informationen, Vollmachten und dem, was er sonst noch brauchte, begab sich Elsterhorst noch am selben Tag zum Haus der Anna-Luise Falke, der verschollenen Lehrerin. Die Recherche in Judiths Elternhaus schob er vor sich hin wie eine äußerst unangenehme, lästige Aufgabe. Nach wie vor war im diese Judith nicht geheuer.
Es sah alles genau so aus, wie Baumann es beschrieben hatte. Die Nachbarhäuser wirkten wie Festungen hinter ebenfalls hohen Hecken. Dennoch war er sich sicher, dass er beobachtet wurde.
Er nutzte das inzwischen leicht wieder zugewachsene Loch in der Hecke, ging den kurzen Weg bis zu den Stufen, die zur Haustür führten. Den Briefkasten ließ er zunächst unbeachtet. Er entfernte das Polizeisiegel, zog die Latexhandschuhe an und betrat den Vorraum.
Die Tür zum Musikzimmer stand weit auf. Es herrschte Dämmerlicht; denn die Pflanzen vor dem Fenster, durch das die Frauen geblickt hatten, waren inzwischen so hoch gewachsen, dass sie wie Vorhänge jeden Einblick verwehrten.
Er stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock und fand drei Räume vor: die Küche, ein Schlafzimmer, merkwürdiger Weise mit Doppelbett, und ein kleines Arbeitszimmer.
Die Küche gab nichts her. Die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank gammelten vor sich hin. Das Tiefkühlfach war leer. Alles war mit einer dicken Schimmelschicht bedeckt. Im Schrank fand er nur das übliche Geschirr. Nicht einmal eine Dose mit Kleingeld! dachte er enttäuscht. Fast jede Frau hatte doch Schmugeld irgendwo.
Im Schlafzimmer öffnete er die oberste Schublade einer alten Kommode aus den fünfziger Jahren. Auch die Unterwäsche, die dort sauber gefaltet lag, mochte aus dieser Zeit stammen. Alles sträubte sich in ihm, darunter zu fassen. Auch mit Handschuhen gruselte es ihn, Schlüpfer und ähnlich Unaussprechliches zu berühren. Das sollten - bitte! - andere machen.
Die zweite der Laden war gefüllt mit Babysachen. Sie mussten noch kurz vor Frau Falkes Verschwinden gewaschen worden sein, denn es entströmte ihnen immer noch der zarte Rosenduft eines Weichspülers.
Auch in der letzten Lade fanden sich Babysachen, Spielzeug diesmal: eine Kinderrassel, ein Schnuller, ein Fläschchen, ein Teddybär und ein Bilderbuch, so als wäre ein Kleinkind eine Weile hier aufgewachsen.
Auf dem antiken Sekretär im Nebenzimmer lagen aufgeschlagene Tagebücher, Reisenotizen mit Skizzen und Fotos illustriert. Eigenartig war nur, dass die Fotos nicht zu den Jahrgängen und Daten passten, aus denen die Notizen zu stammen vorgaben.
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