Elsterhorst zögerte noch.
„Wer ist an diesem Fall dran?“
„Ich“, sagte Velmond, „aber ich stecke bis zum Hals in der Hudefarth-Angelegenheit. Die Leute sind reich und bekannt. Da habe ich die Falke erst mal zurückgestellt.“
„Vielleicht“, bot Elsterhorst an, „kann ich mich auch um den Fall Falke kümmern.“
„Das wäre wunderbar!“ bedankte sich Velmond - aus ganzem Herzen! Er schätzte es gar nicht, gleichzeitig in zwei sehr ähnlichen Fällen zu ermitteln. Vielleicht war es das Alter, dass er dann nie auseinander halten konnte, was zu diesem und was zu jenem Fall gehörte.
Fall Nummer vier: Auguste-Emilie Meissner
In die beginnenden Ermittlungen platzte dann eine weitere Vermissten-Meldung, wieder eine reiche Witwe, wohnhaft im sogenannten Speck- und Villengürtel um München herum. Eine Auguste Emilie Meissner, 82, wird nach einer Dampferrundfahrt auf dem Starnberger See vermisst. Sie ist definitiv nicht von Bord gefallen, sondern wurde am Steg in Starnberg von zwei adretten, gut gekleideten jungen Männern in einem großen schwarzen BMW-SUV abgeholt. Das war insbesondere deshalb aufgefallen, weil dort keine PKW fahren dürfen.
Es gibt mehrere Zeugen, die sich noch eine Weile vor dem Eingang zum S-Bahnhof unterhalten hatten. Sie hatten wohl auch während der Dampferfahrt mit Frau Meissner interessante Gespräche geführt, insbesondere über das ehemalige Wiedemann-Sanatorium in Ambach, als man dort vorbei fuhr. Es gibt jede Menge Digitalfotos.
Aufmerksam auf das Verschwinden wurde das Kassen- und Stegpersonal erst, weil kurz darauf eine Frau aus dem Altersheim in Krailling äußerst beunruhigt anrief, dass Frau Meissner nicht wie vereinbart mit der S-Bahn zurückgekommen sei. Sie sollte in Stockdorf mit dem PKW abgeholt und zu einer Überraschungsfeier anlässlich ihres Geburtstages bei der Gaststätte Heide-Volm in Planegg eingeladen werden. Die Dampferfahrt war ein Geschenk mehrerer Heim-Insassinnen, um die sich Frau Meissner stets rührend gekümmert hatte. Die zwei adretten jungen Männer erwiesen sich jedenfalls nicht identisch mit den älteren Herren, die am S-Bahnhof Stockdorf vergeblich gewartet hatten.
Dass man die Vermisstenmeldung umgehend an die „Soko Witwen“ weitergeleitet habe, wäre doch nach allem, was inzwischen durch die Presse gegangen ist, Ehrensache gewesen.
Wer soll nun diesen Fall übernehmen? „Erst mal abwarten!“ lautete die Empfehlung von ganz oben. „Noch haben wir keine Todesopfer. Noch müssen wir insbesondere bei Frau Hudefarth davon ausgehen, dass sie sich mit jemanden nach Thailand oder ähnlich abgesetzt hat, um einer Anzeige wegen Steuerflucht zu entgehen. Wie sich herausgestellt hat, hatte Hermine Hudefarth erhebliche Beträge in Lichtenstein geparkt und nicht versteuert. Ihr Name tauchte auf der CD-R „Zumwinkel“ mit auf. Die anderen Fälle, auch da müsse man erst einmal abwarten. Also in aller Ruhe auf Sparflamme weiter ermitteln.
Mit dieser Ruhe war es noch am selben Abend vorbei. Dr. Hans-Herbert Hudefarth fand in seinem Briefkasten einen Erpresserbrief vor, mit zusammengeklebten Buchstaben, darunter sogar kyrillische.
„ Wenn du deine Mutter noch Mal widersehe möchtes, dan sende 1 Mio Euro per Western Union an Adrese xxxxxxxxxxxxxxxxx (hier unterdrückt) nach Ukraine. Nix Polizei, dann tot. Wir wisse fiel und sehe alles. Max Müller.“
Im Umschlag ein Foto von Hermine. Im Hintergrund der Hafen von Odessa.
Jetzt begann die Soko zu summen wie ein aufgestörtes Wespennest. Velmond erkannte sofort, dass der Erpresserbrief von einem Anfänger zusammengestümpert worden war. Leider hatte Dr. Hudefarth den Briefumschlag so oft mit seinen Händen betatscht, dass dabei ursprüngliche Fingerabdrücke überdeckt wurden. Der Brief war nicht frei gemacht, wurde also durch einen Boten oder den Täter selbst eingeworfen. Wenn er dadurch eine DNS-Probe im Speichel an der Briefmarke vermeiden wollte, so hatte er diese Vorsicht beim Verschließen des Umschlags offenbar vergessen. Hier würden die Labore fündig werden.
Was der Erpresser ebenfalls nicht bedacht hatte, war, dass hinter den aus Zeitschriften ausgeschnittenen Buchstaben Textbruchstücke lesbar waren, die mit etwas Mühe bestimmten Zeitschriften in Deutschland - also nicht in der Ukraine - zuzuordnen waren. Einige Buchstaben stammten aus bautechnischen Fachzeitschriften.
Dennoch wurde veranlasst, dass ein kleiner Betrag von 100 Euro per Western Union an den angegebenen Absender überwiesen wird, um den Abholer des Betrages in Odessa dingfest zu machen. Die Bank wurde entsprechend instruiert.
Immerhin kam nun das Motiv des „Widow-Napping“ klar zum Vorschein: Erpressung der Familien. Es konnte nur eine Frage kurzer Zeit sein, bis sich auch bei den drei anderen verschwundenen Witwen entsprechende Briefe im Kasten finden würden, eventuell jedoch auch E-Mails bei den Hinterbliebenen. Jetzt war man gewarnt, und auch Maurice Elsterhorst war entsprechend sensibilisiert.
Darüber durfte man jedoch nicht die Causa Nr. 1 aus dem Auge verlieren: Wo sind die alten Damen, sofern sie noch leben, oder ihre Leichen, so man sie bereits umgebracht hat? Es gibt nach wie vor keinerlei Hinweise auf Tod oder Leben. Fest steht nur, unterstützt durch die glasklare Analyse der Uta Möbius:
Alle Damen waren verwitwet, alle rund um die 80, alle lebten allein in großen, alten Villen in Bestlage. Alle waren - bis auf Frau Falke - vermögend. Bei ihr wusste man es noch nicht genau. Alle haben wahrscheinlich den oder die Täter persönlich gekannt.
Lothar Velmond erwirkt gegen das anfängliche Zögern seines Chefs einen Durchsuchungsbefehl im Haus der Auguste-Emilie Meissner. Zwar war nach dem Verbleib der alten Dame bereits kurz nach ihrem Verschwinden in der Villa geforscht worden, aber danach wurde das Objekt versiegelt. Jetzt kam Velmond mit Uta Möbius und dem Team der Spurensicherung in das prachtvolle Haus mit Seeblick.
Seine erste Regung, nachdem er die mit Skulpturen, Gemälden und kostbaren Möbeln ausgestattete Vorhalle betreten hatte, war tiefe Bewunderung. Wieviele Generationen und welche verdienstvollen Persönlichkeiten müssten zusammengewirkt haben, um diesen Grad solider Wohlhabenheit zu erreichen? Er überschlug sein Jahresgehalt und schätzte, dass es in der Villa Meissner nicht mal die Vermögenssteuer würde abdecken können. Hier hatte man das Bedürfnis, sofort weiße Butler-Handschuhe anziehen zu müssen, um den Dingen nicht zu nahe zu kommen - aber er hatte ja nur seine aus Latex.
Wieso lebt eine solche Dame allein? Gibt es keine Dienstboten? Keine Köchin? Keine Putzfrau? Keine Kinder? Keine Enkel? Wie kann man überhaupt allein in einer solchen Villa mit ungezählten Zimmern und Kammern, mit Erkern und Sitzgruppen, mit Balkonen und einer weiten Terrasse und einem gepflegten kleinen Park leben? Es musste einen Gärtner geben! Wieviele Zimmer kann eine einzelne Person nutzen? Velmond träumte sich den Tag der alten Dame zusammen:
Gegen 8 Uhr sich erheben aus einem breiten Bett mit kostbarster Bettwäsche, hinaustreten auf den Balkon, um den See und die Natur zu begrüßen, vielleicht einige Freiübungen, ein Sonnengruß mit ausgestreckten Armen. Ob solche Damen beten? Gibt es einen Hausaltar? Dann ins Bad schlendern, um ein Duschbad in der Luxuskabine mit zehn verschiedenen Strahlern zu genießen, anschließend Make-up, hinüber gleiten in die Ankleide. Sorgsame bequeme, aber beeindruckende Kleidung auswählen und anziehen. Die geschwungene Treppe hinabschweben ins Foyer, dann in die Alessi-Küche. Dort wird der Tee zubereitet, dazu ein, zwei Scheiben Toast, Konfitüre, etwas Obst. Orangen werden automatisch zu Saft gepresst. Bei sommerlichem Wetter mit dem Tablett auf die Terrasse. Eventuell Telefonate (Telefonliste anfordern!). Die Zeitung selber(?) aus dem Briefkasten holen.
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