Werner Siegert
Der Witwenwanderer
Erzählung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Werner Siegert Der Witwenwanderer Erzählung Dieses ebook wurde erstellt bei
Der Witwenwanderer
Eva-Maria
Im Witwenwald
Witwenlust? - Witwenfrust!
Teil 2: Die Witwen-Briefe
Ganz herzlich, Dein Wanderer
Positionsmeldung
Auf zu neuen Ufern
Impressum neobooks
Wandern war Mode geworden. Vor allem jetzt im Herbst. Nach den großen Ferien. Wer keine schulpflichtigen Kinder hatte, schnürte seine Stiefel, packte den Rucksack, warf sich in Kluft und begab sich - meist mit einer seit Jahren verbundenen Clique - auf Bundeswanderwege. Manche Kollegen setzten ihre Wanderung von Hannover nach Rom dort fort, wo sie beim letzten Mal abbrechen mussten. Andere „waren dann mal fort“ und tippelten auf dem Jabobsweg nach Santiago de Compostela - natürlich auch nach dem Verfahren „Fortsetzung folgt!“
Er haderte mit allem, was man modisch den Mainstream nannte. Wandern, ja, das wollte er auch. Zumindest mal probieren. Und vor allem allein, und auf keinem Bundeswanderweg, sondern von einem absolut zufällig ausgewähltem Ausgangspunkt auf absolut zufälligen Wegen. Nichts dramatisches. Keinen Gipfel ersteigen, keine langweilige Ebene durchstreifen. Mittelgebirge. Schwarzwald, Hunsrück, Sauerland, Taunus? Mit geschlossenen Augen tippte er mit dem Finger auf eine Deutschlandkarte und befand sich in Thüringen. Auch gut. Neue Bundesländer.
Er stieg in K. aus dem Zug. Kaufte sich noch ein paar Äpfel am Stand. Die Wasserflasche war gefüllt. Tagsüber wollte er wandern, irgendwie in östlicher oder südlicher Richtung, abends in einem Gasthof einkehren. Erst wollte er sogar auf eine Wanderkarte und einen Kompass erzichten. Das erschien ihm aber dann doch zu fahrlässig. Seit Kindheitstagen plagten ihn nächtliche Albträume, in denen er von schwarzem Moorwasser umgeben dem sicheren Tod ausgeliefert war. Sein lautes Schreien riss ihn dann schweißgebadet aus dieser Not.
Wie man es von allen hörte: Die ersten zehn, fünfzehn Kilometer geht alles noch recht gut. „Wohlgemut“ fühlte sich auch Hänschen, ehe es sich besann und geschwind nach Hause lief. Das Wetter war angenehm. Nicht zu sonnig. Bald nahm der Wald ihn auf. Viele Wegabschnitte waren ziemlich matschig. Es hatte viel geregnet im Sommer. Draußen zwischen den Feldern und Wiesen konnten die Wege eher abtrocknen. Wohlgemut? Na ja, nicht so ganz. Man kommt ins Grübeln. Man fragt sich: Was soll der Quatsch? Und wandert vor sich hin. Endlich kamen Häuser in Sicht. Ein kleines Dorf. Zeit für eine Rast und aufkommende Sorge, rechtzeitig einen Gasthof zu finden. Da fügte es sich gut, dass er vor einem kleinen Katen mit einem Blumenbeet eine Bank erspähte, so richtig zum Ausruhen.
Kaum hatte er seinen Rucksack abgesetzt und die Wasserflasche rausgezogen, trat eine ältere, einfach gekleidete Frau mit einer Schürze und Schlappen raus. Sie begrüßte den Wanderer überaus freundlich, als ob sie auf ihn gewartet hätte. Er entschuldigte sich, dass er so einfach, ohne zu fragen, auf ihrer Bank Platz genommen hatte. Aber nein, das macht doch nichts. Dafür ist sie ja da. Sie setzte sich neben ihn und begann ohne jegliche Scheu mit ihm zu schwätzen. Ob sie ihm einen Kaffee machen solle. Und von wo er käme und wohin er wolle. Er sagte, er habe kein Ziel. Er wolle nur wandern, irgendwohin, immer mal rasten. Goethe zitierte er mit den Gedichtzeilen "Ich ging ganz in Gedanken hin, und nichts zu denken war mein Sinn."
Er habe Zeit. Wenn der Nachmittag dämmere, dann suche er sich einen einfachen Gasthof.
Da sei er wohl sehr optimistisch. Gasthöfe, so wie früher, gäbe es ja kaum noch. Wenn’s hoch kommt eine Kneipe. Es sei ja nichts mehr los. Nur noch alte Leute, so wie sie, allein. Die Jugend „hat fortgemacht“. Hier gibt’s ja auch nichts mehr zu verdienen.
Er ist dann weiter gewandert, hat sich bedankt, dass er auf dieser schönen Bank ausruhen durfte. Bei so netter Gesellschaft. Und wünschte ihr alles Gute. Gesundheit vor allem. Was man so sagt.
Das mit dem Gasthof wurde tatsächlich kritisch. In der „Eiche“ saßen nur ein paar Bauern, Handwerker und Rentner. Nein, Übernachten könne man hier nicht, weit und breit nicht mehr. Einer vom Stammtisch bot ihm an, ihn mit seinem Lieferwagen mitzunehmen in einen Ort, wo es angeblich noch ein kleines Hotel gäbe. Niemand hatte Eile. Warum auch. Man schimpfte über die Merkel, über den schwulen Westerwelle, dass es sowas früher nicht gegeben hätte, und über die Grünen. Die Künast habe ja keine Ahnung von Landwirtschaft. Eigentlich schimpften sie über alle. Es werde ja jeden Tag schlimmer, alles teurer, na ja, und dann noch Brüssel. Und die geilen Pfarrer. Aber sie hätten ja schon seit Jahren keinen mehr. Wozu auch? Die Kirche ist zu.
Gottlob fand er Aufnahme in dem kleinen Hotel. Keinen Luxus. Eine Plastik-Duschkabine ins Zimmer gestellt. Ein durchgelegenes Bett und ein Gebirge von Plumeaus. Verblichene Tapeten, verziert mit gefühlten hundert Mückenleichen. Reicht. Hauptsache die Beine hochlegen und mit Franzbranntwein einreiben. Der berüchtigte erste Tag. Es gab Schnitzel mit Pommes, drei Salatblätter als Dekor und köstliches Bier.
Am nächsten Morgen kostet es Mut weiterzugehen. Die Versuchung, aufzugeben und den Bus zu nehmen, ist beträchtlich. Aber wie sollte er vor den anderen bestehen, die zu Fuß über den Brenner kraxeln? Oder Fotos von Compostela rumzeigen. Er hatte es sich ja so gewünscht: allein, ganz anders, ziellos. Ein Sonnentag - also los. Wohlgemut? Dafür ging ihm zuviel durch den Kopf. Was so die Leute reden. Immer mal wieder fand er, dass allein wandern beschissen ist. Wenn er sich jetzt mit jemandem unterhalten könnte! Dann hat er angefangen, so zu tun, als ginge ein Jemand neben ihm. Sein Vater. Da hatte er jemanden, mit dem er sprechen konnte. Mit seinem toten Vater. Wie der auf alle Erfindungen heute reagieren würde, auf sein Handy in der Tasche, auf Google Earth, auf sein neues Auto, das er zuhause in der Garage gelassen hatte. Er versuchte, ihm alles zu erklären. Laut vor sich hin sprechend. Wunderbar, dass sich der Vater auf das Gespräch einließ. Wir haben doch auch gelebt. Es ist doch eigentlich nichts besser geworden. Die Menschen unglücklicher, kränker, arbeitslos. Wir haben ja auch mal in Thüringen Urlaub gemacht. An einer Talsperre. In einem schönen Hotel. Da warst du fünf Jahre alt.
Und heute: Keine Gasthöfe mehr. Kilometer für Kilometer. Dazwischen ein Apfel, aus Neuseeland. Ein süßes, klebriges Hefeteilchen. Kein Brunnen, um sich die Hände zu waschen. Also Wasser aus der Flasche drüber laufen lassen. Bald wieder auffüllen.
Am Nachmittag machte er wieder auf einer Vorgartenbank Rast, an einem verwitterten Tisch. Alle diese kleinen Häuser hatten ihre Vorgartenbänke. Das war ihm aufgefallen. Und wieder kam alsbald eine ältere Frau raus. Auch sie freute sich, mal wieder jemanden zum Schwätzen zu haben. Es sei so einsam und still geworden. Der Mann tot, die Kinder weit weg. Das Dorf auch tot, kein Wirtshaus mehr, kein Einkaufsladen, nur ein Schulbus morgens und mittags für die wenigen Kinder, mit dem sie manchmal mitfahren dürfe zum Einkaufen in die Kreisstadt. Sonst nähme sie das Fahrrad. Ob er nicht reinkommen wolle. Vielleicht eine Nacht bleiben, weil es ohnehin keinen Gasthof mehr gäbe, weit und breit. Das Zimmer von ihrem Sohn, das könne sie für ihn richten. Sie unterhielten sich. Die Frau sagte so wunderbare Sachen wie "Ach wissen Sie, der Mensch ist eine Wundertüte, vor dem Heiraten, letztlich weiß man nie, was drin ist. Man selbst ist sich ja auch eine Wundertüte. Jeden Tag neu!" Eine einfache Frau mit Schürze, die Möhren aus dem Garten reinholt. Lebensweisheiten. Der Mensch – eine Wundertüte!
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