Erst mit der Zeit wurden die Auflagen gelockert, schon weil sich kaum Polizistinnen oder Polizisten bereit fanden, sich samstags oder sonntags in der Hudefarth-Villa auf einer Bank zu langweilen, während die Zimmer durchgelüftet, staubgesaugt, die Wasserleitungen durchgespült und wenigstens ein wenig geputzt wurde. Schließlich wollten die potenziellen Erben die wertvolle Immobilie nicht verkommen lassen.
Lothar Velmond, mit dem man sich kurz nach der Anreise von Mrs. Thompson zum Tee im Salon der Villa traf, schien nicht abgeneigt, den Fall zu übernehmen, wenn aus dem Kommissariat in der Münchner Ettstraße dazu Grünes Licht gegeben würde. Rätselhafte Fälle wie einst, als in einer katholischen Kirche während des Gottesdienstes eine skelettierte Leiche von der Decke fiel, faszinierten ihn besonders.
Höchst merkwürdig empfand er, dass es der 30jährige Sohn Philipp aus der ersten Ehe des Dr. Hudefarth mit Edeltraut nicht für angemessen hielt („decent“), am Familientreffen teilzunehmen. Für das Fehlen von Edeltraut hatte man jedoch Verständnis. Zwischen ihr und Else-Marie herrschte bittere Feindschaft.
Zunächst jedoch verlief alles sozusagen im Sande - Stoff für Phantasien von der Art, Hermine sonne sich an einem thailändischen Strand und sei Hals über Kopf mit einem neuen Liebhaber abgehauen, weil sie sich von ihren Kindern verlassen gefühlt habe. Sie schäme sich andererseits über ihr wenig katholisches Verhalten. Auch ein schwarzarbeitender kroatischer Gärtner, niemand wusste den Namen, irgendwas mit i? am Ende, kam in Betracht, die alte Dame nach Split oder Opatja entführt zu haben. Dass es jedoch keinerlei Kontenbewegungen gab, sprach gegen alle noch so schönen Gedankenspiele.
Der zweite Fall: Maria Solemnis Hüttner
Anna Weidner war so aufgeregt, dass sie sich mehrfach verwählte, als sie gegen 17:00 Uhr Maria anrief. Natürlich war Maria da! Maria müsste da sein! Wo sollte sie sonst sein?
Klar - sie hätte sich alles leisten können, Reisen, Theater, Ausstellungen; denn sie hatte nicht nur ihre Eltern, sondern auch ihren Mann beerbt. Ihre Tochter Judith lebte im Ausland, gut versorgt, wie man sagte. Statt sich jedoch mit ihren über 70 Jahren den schönen Dingen des Lebens hinzugeben, widmete sie sich ausschließlich Werken der Nächstenliebe. Wie die adligen Fräulein im Mittelalter, dachte Anna. Gut für die Nachbarschaft; denn man konnte ihr alle und alles anvertrauen – vom Säugling bis zur pflegebedürftigen Schwiegermutter. Und Anna bräuchte sie jetzt dringend. Sofort! Ihr Sohn hatte einen Sportunfall gehabt und musste abgeholt werden. Wer sollte da auf die kleine Schwester aufpassen? Maria, wer denn sonst?
Irgendwann gab Anna auf. Wahrscheinlich war ihr ein anderer Hilfsbedürftiger zuvor gekommen. Sie packte Klein-Alma ins Auto und fuhr los.
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„Wo ist Maria Solemnis?“ fragte Bruder Gregor und ließ seine kleinen schwarzen Augen mit durchdringendem Blick über die Anwesenden schweifen, ohne jemanden direkt anzuschauen. Die Anwesenheit bei den monatlichen Treffen der „Lebenshilfe-Gruppe“ war eines der wichtigsten Gebote.
Hier im Meditationsraum hatten alle ihre festen Plätze - getrennt nach Frauen und Männern. Die Schemel waren in Form eines Dreiecks angeordnet, an dessen offener Seite Gregor stand. So konnten ihn alle Teilnehmer sehen, ohne den anderen ins Gesicht zu blicken.
Es waren ausschließlich Witwen und Witwer, die Bruder Gregor - wie er sich nannte - in dieser von ihm gegründeten „Conquiesto-Lebenshilfe-Gruppe“ angeworben hatte. Maria Solemnis Hüttner gehörte zu seinen ältesten „Kundinnen“.
„Schwester Klara Imolata“, wandte er sich an eine der Teilnehmerinnen, „Sie hatten die Aufgabe, Maria Solemnis um 18:00 Uhr abzuholen.“
„Sie war nicht da.“ rechtfertigte sich die Angesprochene.
„Nicht da?“ Das klang wie ein schwerer Vorwurf. Klara zuckte zusammen. „Ich habe sicher zehnmal geläutet“.
„Warum haben Sie nicht nachgesehen?“
Die Frage war berechtigt. Jedem Mitglied der Gruppe war eine Hüterin oder ein Hüter an die Seite gestellt. Diesem übergaben sie beim so genannten „Aufnahmeritual“ den Wohnungsschlüssel und eine Vollmacht, die sie berechtigte, zu jeder Zeit die Wohnung oder das Haus des Anvertrauten zu betreten.
Klara senkte den Kopf. Sicher würde ihr Bruder Gregor später in einem privaten Gespräch eine verdiente Buße auferlegen.
Gregor entrollte ein Bild. Es stellte ein Labyrinth dar. Dann befahl er allen, diese einprägsame Abbildung konzentriert anzuschauen, sich darin zu vertiefen, um sich der Irrwege ihres eigenen Lebens bewusst zu werden. Damit begann ein Ritual; denn dieser Betrachtung würde ein öffentliches Sündenbekenntnis folgen.
Dazu kam es nicht.
Denn Klara stand auf, stieß ihren Stuhl verärgert zurück und verließ schnellen Schrittes den Raum.
Dieser kolossale Regelverstoß sprengte unvermittelt alle auferlegten Fesseln. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über Marias möglichen Verbleib und Klaras offenkundiges Versäumnis, intensiver nach ihr zu forschen. Gregor vermochte das Aufbegehren nicht mehr zu stoppen. Noch nie war es zu einer solchen Disziplinlosigkeit gekommen.
Alle Rufe nach Klara verhallten ungehört; denn sie hatte sich eilends auf den Weg zu Marias luxuriöser Villa begeben. Zögernd öffnete sie die prächtige Tür. So viel privater Wohlstand war eigentlich den Mitgliedern von Gregors Selbsthilfe-Gemeinde nicht erlaubt. Da sich jedoch Maria äußerst großzügig zeigte, wurde ausnahmsweise darüber hinweg gesehen.
Die Zimmer wirkten so, wie sie jemand für eine längere Abwesenheit herrichtet. Schonbezüge bedeckten die Biedermeier Möbel. Bilder, die zu irgendeiner Tageszeit dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen wären, hatte jemand mit Tüchern verhangen. Staub bedeckte die antiken Tische und Schränke. Es roch ungelüftet und die Luft fühlte sich trotz des relativ warmen Wetters erstaunlich kühl an.
Klara war keine mutige Frau. Nach einem eiligen Rundgang verließ sie fröstelnd das Haus – nicht ohne vorher ein paar Schubladen geöffnet zu haben.
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Nachbarin Anna, die ihre Kinder auch ohne Marias Hilfe längst wieder eingesammelt hatte, erwachte in der Nacht von einem Brandgeruch, der jedoch von draußen zu kommen schien. Sie weckte ihren Mann. Gemeinsam gingen sie zu Marias Haus.
Auf dem Rasen im Garten brannte ein Feuer. Funken, glühende Fetzen segelten in die Nachtschwärze, angesengtes oder schon verbranntes Papier bewegte sich schattenhaft im leichten Wind.
Emil, Annas Mann, verständigte die Polizei.
Der dritte Fall: Anna-Luise Falke
Heinz Baumann war ein geselliger Mensch. Außerdem glaubte er, dass es den Menschen gut täte, Freundschaften bis ins hohe Alter zu pflegen. Also kramte er nach zweijähriger Pause sein Verzeichnis der ehemaligen Schüler und Lehrer der Opel-Realschule in München aus der Schublade und verfasste wohl formulierte Einladungen für ein Ehemaligen-Treffen. Da sein Schulabschluss inzwischen fast 50 Jahre zurück lag, musste er damit rechnen, dass viele Adressen oder Telefonnummern nicht mehr stimmten. Aber noch immer war es ihm gelungen, herauszufinden, wo die Leute hingezogen waren, ob sie überhaupt noch lebten und wann sie wo und woran sie verstorben waren.
Frau Falke musste inzwischen fast 80 sein. So wunderte er sich nicht, dass sie auf das UAwg am Ende seines Briefes nicht reagiert hatte.
Er versuchte es noch einmal per Telefon. Kein Anschluss unter dieser Nummer ! ließ eine Automatenstimme vom Amt vernehmen.
Er befragte einige ihrer Kolleginnen, die früher mit ihr befreundet gewesen waren, und erhielt stets dieselbe Antwort: Nein, mit Frau Falke hatten sie schon seit längerem keinen Kontakt mehr. Er wollte sich indes damit nicht zufriedengeben und rief bei verschiedenen Altersresidenzen und Heimen an. Ohne Ergebnis.
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