Aber warum blieb er dann nicht bei einer? Warum musste er sich immer wieder beweisen, mit immer neuen Frauen? War das seine Droge?
Altmann hatte gerade aufgelegt.
»Warum quälen Männer Frauen, Jonas? Kannst du mir das sagen?«, fragte sie ihn direkt.
»Ist das eine Art Rache?«
Er lachte. »Die quälen sich selbst, wenn sie einer nicht mehr erträgt und sie sitzen lässt«, grinste er. Dann wurde er wieder ernst und sah sie schräg von der Seite an.
»Du meinst diesen Fall und den Mann in Salzburg, nicht?«
Er legte den Kopf nach hinten an die Kopfstütze, wobei ihm sein Hut in den Schoß fiel. Er ließ ihn liegen.
»Tja. Macht über andere, das passt eher als Rache, finde ich. Nach den Akten hat der Typ es genossen, dass die Frauen ihm gefolgt sind und sich selbst weh getan haben, mit Säuren, wieder und wieder, auch wenn es sehr schmerzhaft war. Einige sind dabei bewusstlos geworden, für Stunden. Beim nächsten sogenannten Quiz über Youtube haben sie es dann trotzdem wieder gemacht.«
Er rutschte nach unten und setzte sich den Hut wieder auf. »Ich mache mir eher Gedanken über diese Frauen. Warum machen die das? Das weiß doch jeder, dass Säure gefährlich ist. Der hat die an ihrer Wertschätzung gepackt, denke ich. Die hätten etwas im Quiz gewinnen können, das hat sie heiß gemacht. Sie hatten eine tolle Chance, etwas zu gewinnen. Das und die Neugier, oder?«
Er sah sie wieder an, Ilka sah auf die Straße vor sich.
»Wir haben doch alle schon mal an uns rumprobiert, oder? Uns ausgetestet, wie weit man gehen kann, ob etwas weh tut, ob man das aushält. Wir machen Mutproben mit, als Kinder, auch dabei kann man sich verletzen oder sterben, hatten wir doch oft genug, oder Ilka?«
Sie sah ihn mit einem Seitenblick an. »Und?«
»Die Frauen hatten eine Chance, Geld zu gewinnen. Und ihre Grenzen auszutesten. Eine Mischung, die zusammen mit überzeugenden Worten wohl immer gezogen hat. Und nach Fifty Shades of Grey kommt Masochismus ja bei Frauen auch ganz gut an, soweit ich weiß.«
Er lehnte sich zufrieden zurück und nahm seinen Hut wieder ab.
»Okay, das erklärt vielleicht die Bereitschaft der Frauen, sich so etwas auszusetzen, obwohl ich das sehr beunruhigend finde«, gestand Ilka.
»Wir suchen aber keine Opfer, Jonas, wir suchen den Täter. Macht, sagst du, ein Trick, die Leichtgläubigkeit der Frauen auszunutzen, damit sie tun, was man ihnen sagt, und sich dabei verletzen. Das allein kann es nicht sein. Da gehört noch mehr dazu. Sadismus. Der Wunsch zu verletzen, zu quälen. Aber warum will jemand Frauen quälen? Was sagst du als erfahrener Mann dazu?«
Jonas sah sie gequält an, nahm den Cowboyhut wieder ab und biss fragend in die Krempe. Er dachte einen Moment nach.
»Du musst da vorne abbiegen«, empfahl er Ilka.
»Weiß ich. Lenk nicht ab.«
Jonas beugte sich vor und stülpte sich sein wichtiges Bekleidungsstück wieder auf.
»Du hast vorhin Rache erwähnt. Wegen Zurückweisungen, würde mir dazu einfallen. Enttäuschte Liebe. Wenn du den alten Freud bemühen willst, die Strafe dafür, dass die Mutter den Sohn verlassen hat. Ihn aus dem Haus gejagt hat. Dafür, dass die Frauen den Männern nicht geben können, was sie wollen. Dass sie selbst zu viel von den Männern wollen und nicht bereit sind, sich unterzuordnen. Dass sie einen eigenen Willen haben und ihre eigenen Interessen über die der Männer stellen, so was in der Art. Das würde dazu passen, dass der Täter seinen Opfern seinen Willen aufzwingen will. Dass er sie zu etwas bringt, was sie eigentlich nicht wollen können.«
Er lehnte sich wieder zurück.
»Ich weiß auch nicht. Ist doch alles Scheiße, was diese Perversen im Kopf haben.«
Ilka brachte den Passat zum Stehen und griente ihren Beifahrer spöttisch an. »Sehr aufschlussreich, Jonas. Schauen wir uns das Opfer mal an.«
Die Tote hatte im vierten Stock gewohnt. Unten am Hauseingang stand ein Kollege, der nur die Anwohner durchließ, vor ihm standen zwei Pressevertreter, die ins Haus wollten.
»Sorry, das sind laufende Ermittlungen. Da kommt die Hauptkommissarin, fragen Sie die doch.«
Ilka funkelte den Streifenpolizisten an und wandte sich an die Reporter.
»Sorry, ich bin hier gerade erst angekommen. Sobald ich wieder raus bin, kann ich Ihnen gern Auskunft erteilen. Setzen Sie sich am besten in Ihre Fahrzeuge, es ist kalt draußen, und Sie halten den Anwohnerverkehr auf. Danke.«
Schon im Treppenhaus konnten sie riechen, was die Beamten gemeint hatten. Es roch nach vergammeltem Braten, der ein paar Tage zu lange im eigenen Saft im Backofen gestanden und zu stinken angefangen hatte, mit einer Note von verwesendem Fleisch. Altmann hielt sich die Nase zu.
In der Wohnung, in der es bestialisch ätzend stank, saß eine Frau von der Spurensicherung, die Ilka kannte. Kirsten Warnecke, die aber nicht sie, sondern den Cowboy neben ihr ansah.
»Hi, Johnny«, begrüßte sie ihn, bevor sie Ilka wahrnahm. »Hallo, Ilka. Gut, dass ihr kommt.«
Ilka sah sich um. Bevor sie etwas fragen oder sagen würde, wollte sie sich selbst einen Eindruck verschaffen und im Geist durchspielen, was hier passiert war.
Die Spurensicherung war fertig, wie sie an den zahlreichen Markierungen feststellen konnte. Auf dem Küchentisch, hinter dem Kirsten Warnecke saß, lag ein Bericht des Amtsarztes, Warnecke selbst tippte ihren in einen Laptop, wobei sie ab und an ins Wohnzimmer spähte, wo die Tote in ihrem Kreideumriss lag.
»Die Leiche wird in einer halben Stunde abgeholt und zur Rechtsmedizin gebracht«, informierte sie die Kommissarin. »Die Wohnung haben wir für weitere vierundzwanzig Stunden gesperrt, bis der Tatortreiniger kommt.«
Ilka trat ins Wohnzimmer, Jonas Altmann im Schlepp. Der Geruch war gerade noch zu ertragen. Altmann empfand das wohl anders; er eilte ins Bad und schloss die Tür hinter sich, Ilka hörte ihn trotzdem stöhnen.
Gut so, dachte sie, die Mimose lenkt mich sowieso eher ab.
Sie sah sich die Tote an.
Die Frau war splitternackt, ihre Sachen hatte sie auf einem Stuhl abgelegt und über die Lehne gehängt.
Sie lag auf einer Art Zeltplane. Das sollte wohl die Flüssigkeiten daran hindern, in das darunterliegende Parkett einzusickern.
Die Leiche sah unförmig und fleckig aus. Dunkle Leichenflecken wechselten sich mit anderen Flecken ab, vor allem an Bauch und Brust und im Bereich des Unterkörpers. Die Haut dort war aufgeworfen, blasig und knallrot.
Die Frau musste hübsch gewesen sein, dachte Ilka. Sie hatte lange, blonde Haare, die jetzt auf dem Teppich ausgebreitet lagen. Ihr Gesicht sah ebenmäßig aus. Wo jetzt die Maden verschiedener Fliegenarten krabbelten, waren einmal rote Lippen und braune Augen gewesen.
Sie sah an die Wände und suchte dort und auf Tischen und Schränken nach Fotos der Toten. Sie fand zwei.
Die Frau war in der Tat attraktiv gewesen. Ein Foto zeigte sie im Urlaub, im Bikini.
Ilka fiel das Gesicht auf. Sie hatte große, braune Augen gehabt, eine leicht gebogene Nase und hübsche Ohren und Haare, über einer passablen Figur.
Nur der Mund passte nicht. Die Mundwinkel zeigten auf beiden Fotos nach unten, als ob die Frau permanent unzufrieden gewesen wäre, enttäuscht.
Sie wusste nichts über das Opfer, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihr Leben. Das würde sie nach der Beschau nachholen.
Jonas kam aus dem Bad und sah sich die Tote an.
»So sehen wir auch mal aus«, neckte Ilka ihn. »Sieh schon mal genau hin, Johnny.«
»Bäh«, sagte er. »Ich nicht. Ich lasse mich sofort verbrennen. Das ist doch widerlich, oder?«
»Erkundige dich bitte nach ihrem Umfeld, Jonas. Kirsten wird dir sicher schon einiges sagen können. Namen, Alter, Familienstatus. Du weißt schon.«
Er ging aus dem Zimmer, froh, sich diese fortgeschrittene Verwesung nicht länger ansehen zu müssen.
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