Bei diesen Ausführungen wurde Patrick immer bleicher. Die Erinnerungen an die Nacht vorher kamen durch die Worte, die er hörte, schmerzlich wieder hoch. Der Pathologe schien dies jedoch nicht zu bemerken, für ihn war es sein Beruf und so dachte er in diesem Moment nicht darüber nach, dass hier der Vater der beiden Kinder saß.
“Tut mir leid. Wichtiger scheint mir für Sie zu sein, die eigentliche Ursache für den Sturz herauszufinden, oder?”
“Das bringt sie mir auch nicht zurück. Ich weiß nicht, ich hatte mir erhofft, Sie hätten vielleicht irgendwelche ungewöhnliche Spuren an den Leichen entdeckt, die mir Aufschluss hätten geben können.”
“Nein. Das einzig Ungewöhnliche sind die vielen Verletzungen, mehr aber auch nicht. Und wenn man die Höhe, aus der die beiden gefallen sind noch mit bedenkt, eigentlich nicht einmal die.”
“Danke trotzdem Dr. Höning, dass Sie sich die Zeit genommen haben.” Welp machte Anstalten aufzustehen.
“Keine Ursache. Und wenn Sie doch noch Fragen haben sollten, rufen Sie mich gern direkt an.” Höning gab ihm eine Karte auf der unter anderem die direkte Durchwahl ins Labor stand, als auch die Mobilnummer.
Das war der Moment gewesen, in dem sich bei Patrick das Gefühl auftat, dass da etwas dran sein müsse, dass diese Bahngesellschaft schuld war. Vorher hatte er darüber keinen einzigen Gedanken verloren. Doch nun, als genauer darüber nachdachte, kam es ihm absolut plausibel. Unter welchen Umständen auch immer, diese ECTA war Schuld. Über das Wie kann sich die Polizei Gedanken machen.
Als er von den Beamten hinaus begleitet wurde, nachdem die Formalitäten mit Welp geklärt waren, klopfte es wieder an der Labortür. Dr. Höning öffnete. Vor der Tür stand McAllister. Der Pathologe machte die beiden miteinander bekannt. Die Reaktionen waren total unterschiedlicher Natur. McAllister blickte schuldbewusst, als wenn ihm das Aufeinandertreffen unangenehm war.
Patrick hingegen hatte nichts als Hass und Verabscheuung in den Augen gehabt. Die Erwähnung der Bauarbeiten hatten für ihn den Schuldigen ohne Zweifel dargelegt.
Sonntag, 04. Juli
Engelskirchen, Haus der Westerfelds
Julia und Patrick saßen in ihrem Wohnzimmer, Julia auf dem Sofa, Patrick in seinem Sessel. Den ganzen Tag über hatten sie kaum gesprochen. Jeder der beiden versuchte auf seine Art und Weise mit dem Unglück fertig zu werden.
Gerade waren der Bestatter und der Pastor der hiesigen Gemeinde bei ihnen gewesen, um die Formalitäten und den Ablauf der für morgen geplanten Beerdigung zu besprechen. Natürlich fiel es ihnen schwer, darüber zu sprechen. Julia hatte sich weitgehendst raus gehalten, sie konnte es einfach nicht. Sie saß die ganze Zeit stoisch auf dem Sofa und hielt die Lieblingskuscheltiere von Elise und Jonah im Arm. Patrick war auch nicht wohl bei der Sache, aber es musste sein.
Als es langsam Abend wurde klingelte es zweimal kurz hintereinander. Die Eltern von Julia und Patrick waren angekommen. Von da an hatte Julia wenigstens etwas mehr seelische Unterstützung, die ihr Patrick verständlicherweise nicht so geben konnte, wie es notwendig gewesen wäre.
Sie gingen früh zu Bett. Der nächste Tag würde sehr schwer werden. Die ganze Familie und die Freunde der Kinder zu diesem traurigen und bitteren Anlass zu sehen, würde eine der schwersten Prüfungen werden, die sie in ihrem Leben zu überstehen hatten.
Montag, 05. Juli
Engelskirchen, Friedhofskapelle
Es war ein Sommer wie aus dem Bilderbuch, fast so trocken und heiß wie 2006, als die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfand. Damals war es ein friedlicher Sommer gewesen, auch für die Familie Westerfeld. Doch in diesem Jahr werden sie den Sommer nicht weiter genießen können, sie hatten das Gefühl niemals mehr einen Sommer, ein Weihnachtsfest oder auch nur irgendetwas genießen zu können. Die fröhlichen und unbeschwerten Zeiten in der Familie waren vorüber, nach dem was am vergangenen Freitag geschehen war. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.
Julia saß neben ihrem Mann Patrick auf der harten Holzbank in der ersten Reihe der kleinen Kapelle ihres Heimatortes Engelskirchen, gekleidet in ihrem schickesten, schwarzen Kleid. Ihre langen, brünetten Locken hatte sie unter einem schwarzweißen Tuch, die verheulten Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Sie war unendlich traurig, konnte es immer noch nicht fassen, dass sie nun hier saßen und ihre Kinder, zu Grabe tragen mussten. Der Schock über den Verlust saß verdammt tief.
Patrick schien gar nicht anwesend. Er saß stumm neben Julia und starrte geistesabwesend auf die Särge ihrer Kinder Elise und Jonah, die vor dem Altar aufgebahrt waren.
Die Sonne brannte draußen gnadenlos vom Himmel. Die Hitze war auch hier, innerhalb der Kapelle, deutlich spürbar. Die Fenster schienen die Wärme noch zu verstärken. Nicht wie in all den Filmen, die man gesehen hatte, in denen es während einer Beerdigung stets in Strömen regnete.
Die Westerfelds hätten es gerne gehabt, wenn die Särge ihrer beiden Kinder offen gewesen wären, um Elise und Jonah wenigstens noch ein letztes Mal sehen zu können.
Der Bestatter hatte ihnen jedoch mitteilen müssen, dass er es selbst mit dem größtmöglichen Aufwand nicht geschafft hätte, all die Verletzungen soweit zu kaschieren, dass er guten Gewissens offenen Särgen hätte zustimmen können. So waren die Särge zum Leidwesen der Eltern geschlossen aufgebahrt worden. Wenn Julia gewusst hätte, wie sehr ihre Kinder verunstaltet waren, hätte sie auch keine offenen Särge gewollt. Patrick hatte ihr nichts erzählt.
Julia und Patrick hatten darauf bestanden, dass keine Orgelmusik gespielt werden sollte, sondern ausschließlich die Lieblingsmusik von Elise und Jonah. So hörten die Trauergäste Lady Gaga und Justin Bieber aus den Lautsprechern, woran sich aber auch keiner störte. Zu Ehren der beiden hätten sie wahrscheinlich alles hingenommen, wäre es auch noch so furchtbar gewesen.
Julia hing ihren Gedanken nach, an die Ereignisse der letzten Tage. Sie konnte sich nicht wirklich auf die Trauerfeier und die Worte des Pfarrers konzentrieren. Ihr gingen immer wieder die letzten Tage durch den Kopf.
Als Julia aus ihrer Starre erwachte war die Trauerfeier schon fast zu Ende. Langsam begann sich die Trauergemeinde zu erheben und der Prozession mit den Särgen zur Grabstelle zu folgen. Der Steiff-Bär von Jonah war oben an seinem Sarg befestigt, genauso, wie die Lieblingspuppe von Elise auf ihrem.
In dem Moment, als die Trauergesellschaft die Kapelle verließ, fuhr eine schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben vor. Alle Köpfe drehten sich zu dem imposanten Fahrzeug, um zu schauen wer da wohl ankam.
Es handelte sich um Ian McAllister, den Chef der ECTA. Was konnte der bloß hier wollen? Den meisten war er nur aus dem Fernsehen bekannt, wenn überhaupt. Nicht so jedoch für Patrick. Er hatte ihm bereits in der Gerichtsmedizin in Köln gegenüber gestanden.
Und nun stand dieser Widerling erneut vor ihm, auf der Beerdigung seiner Kinder! Patrick kochte vor Wut in Angesicht des Mannes, der in seinen und in den Augen der gesamten Familie, verantwortlich für den Tod seiner Kinder war. Sie waren überzeugt davon, dass die Bauarbeiten, in welcher Art und Weise auch immer, für das vermeintliche Erdbeben verantwortlich waren.
Patrick wollte gerade auf McAllister zustürmen, wurde aber von seinem Schwiegervater und seinem Bruder aufgehalten.
“Lasst mich los! Der hat hier nix verloren!” Patrick versuchte sich aus den festen Griffen zu befreien.
“Warte doch erst mal, was er will. Patrick, bitte!”, versuchte Max ihn zu beruhigen. Julia brach in Tränen aus, wurde im Kreis ihrer Familie getröstet, was unter diesen Umständen nahezu unmöglich war.
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