Kurze Zeit später tauchte ein Scheinwerferpaar auf der Landstraße auf. Als sie näher kamen wurde deutlich, dass es der angekündigte Streifenwagen war.
“Guten Abend! Sind Sie die Eheleute Westerfeld?”, fragte der Wachtmeister.
“Das sind wir.”
“Dann erzählen Sie bitte noch einmal, was passiert ist.”
Die Beamten nahmen die Aussagen auf. Viel konnten sie ihnen nicht sagen, wussten sie ja selber nicht genau, was passiert sein könnte.
“Haben Sie noch mal versucht Ihre Kinder auf den Handys zu erreichen?”
“Kurz bevor Sie kamen - nichts - keine Antwort, keine Verbindung. Nur jeweils die Mailbox.”
“OK, wir kümmern uns darum. Wir werden einen Suchtrupp in das Gebiet schicken und einen weiteren Streifenwagen anfordern, der sie nach Hause bringen und bei Ihnen bleiben wird. Dort warten Sie dann bitte, bis Sie etwas von uns hören. Sind Ihre Kinder denn schon häufiger einfach von zu Hause weggelaufen?”
“Sie sind nicht weggelaufen!” Julia schrie es dem Beamten förmlich ins Gesicht. “Was bilden Sie sich ein, einfach zu behaupten, sie wären weggelaufen?”
“Wissen Sie, so was kommt häufiger vor, als man denken mag.”
“Aber nicht unsere Kinder, wir sind eine sehr, sehr glückliche Familie! Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet, eine glückliche Familie zu sein?”
“Gut, gut, wie Sie meinen. Herr Westerfeld, wären Sie in der Lage selber zu fahren?”
“Ich weiß nicht genau, ich glaube, es wäre besser, wenn einer Ihrer Kollegen mit unserem Wagen fahren würde.“
Engelskirchen, Haus der Familie Westerfeld
Eine Stunde später waren Sie wieder zu Hause angekommen. Das Haus wirkte auf die beiden leer und unausgefüllt. Es fehlte das Lachen, das Herumtoben der Kinder. Beide waren absolute Wunschkinder gewesen. Entsprechend wurde von Geburt von Jonah an das Leben größtenteils auf die Kinder zugeschnitten. In diese Welt passte einfach nicht, dass die beiden einfach so verschwanden. Und es passte auch nicht zu den beiden. Viel zu folgsam und vernünftig sind sie gewesen. Vor allem, wovor hätten sie weglaufen sollen? Sie hatten alles, was man sich wünschen konnte. Zumindest hatte es nie Anzeichen gegeben, dass sie wegen irgendetwas unglücklich sein könnten.
Die beiden Streifenpolizisten blieben im Haus. Einerseits, um unüberlegte Handlungen zu verhindern, besonders Julia wäre in der momentanen Verfassung einiges zuzutrauen gewesen, andererseits aber auch, um im Notfall die Westerfelds so schnell wie möglich zurück ins Naturschutzgebiet fahren zu können.
Die folgenden Stunden verstrichen wie in Zeitlupe. Es kam ihnen so vor, als würde die Zeit still stehen. Die andauernde Ungewissheit ließ sie nicht ruhen. Julia ging immer wieder von einem Kinderzimmer zum anderen und zurück. Einfach, um so wenigstens eine gewisse Nähe zu ihren Kindern zu haben, in Gedanken bei ihnen zu sein.
Patrick jedoch schien es besser hinzubekommen, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er saß in seinem grünen Ohrensessel im Wohnzimmer. Ob er wirklich zur Ruhe kam? Er starrte, seitdem sie wieder zu Hause waren, eigentlich nur Löcher in die Luft.
Die Warterei war nervenzerfetzend und mit jeder Minute, die verstrich, schwand die Hoffnung der Eltern auf eine gute Nachricht. Hörte man doch immer wieder, je länger es dauerte, umso schlimmer die Nachricht.
Mittlerweile war es nach Mitternacht geworden, als sich plötzlich eines der Funkgeräte der Beamten krächzend meldete. Einer der beiden verließ den Raum, um im Nebenzimmer die Nachricht zu empfangen. Er wollte damit verhindern, dass Herr Westerfeld durch seinen Gesichtsausdruck bereits ahnen konnte, was geschehen war.
Es dauerte nicht lange, da kam der Beamte wieder rein und setzte sich auf das Sofa neben Herrn Westerfeld und berichtete ihm, so vorsichtig und einfühlend wie möglich, was er soeben erfahren hatte.
Mit jedem Wort mehr wich langsam jegliche Farbe aus Patricks Gesicht. Entsetzen machte sich bei ihm breit, und Unglaube, so schien es. Aber ein Blick in die Augen des Beamten zeigte ihm deutlich, dass dies die Wahrheit war, was ihm gerade mitgeteilt wurde. Ein Gefühl von unendlicher Trauer und Wut auf den, oder die Verantwortlichen machte sich breit, nur wusste er nicht, wem er die Schuld geben sollte.
“Möchten Sie es Ihrer Frau mitteilen, oder soll das einer von uns lieber übernehmen?”
Patrick erhob sich langsam aus seinem Sessel. Er war völlig durcheinander, das durfte einfach nicht wahr sein, das konnte nicht wahr sein. Er musste sich abstützen beim Aufstehen, so wackelig war er auf den Beinen. Wortlos schritt er aus dem Raum und ging in den Flur, zur Treppe, in die obere Etage. Ganz langsam, als wenn er noch nie über eine Treppe gegangen wäre, schritt er Stufe für Stufe hinauf. Antwort genug für den Beamten.
Seine Frau saß in Jonahs Zimmer auf seinem Bett, mit dem Lieblingskuscheltier in den Armen. Es war der schon total ausgeblichene und abgenutzte Steiff-Bär, den Jonah von seinen Großeltern zur Geburt bekommen hatte, aber von ihm trennen wollte und konnte er sich nicht. Jonah hatte ihn zu gerne.
Als Julia ihren Mann im Türrahmen stehen sah, genügte ihr ein einziger Blick auf seine fast zwei Meter große Gestalt. Die Körpersprache und der Blick seiner haselnussbraunen Augen sagten alles, was gesagt werden musste. Es war Nachricht gekommen, Nachricht die keiner von beiden hören wollte.
Sie schaute ihn erwartungsvoll an, in der Hoffnung, sich vielleicht doch getäuscht zu haben. Patrick sah die Frage in ihren Augen und schüttelte zur Antwort lediglich den Kopf. Julia begann langsam am ganzen Körper zu zittern. Es begann an den Füßen, zog über die Beine bis hinauf zum Oberkörper bis es schließlich das Kinn erreichte. Und da brach es aus ihr heraus. Die Tränen schossen ihr in die Augen und aus ihrer Kehle entrang sich ein gequälter, lang gezogener Schrei.
“NEEEIIIIN!!!!”
Naturschutzgebiet bei Engelskirchen
Schweigend saßen Julia und Patrick auf der Rückbank im Streifenwagen. Die Beamten fuhren sie zum Fundort ihrer Kinder in das Naturschutzgebiet. Der Hauptkommissar vor Ort hatte darauf bestanden, dass sie zur Identifizierung persönlich dort erschienen. Es war ihnen nicht leicht gefallen, sich mit auf den Weg zu machen, wussten sie ja nicht, was sie dort erwarten würde. Entsprechend wollten sie auch nicht aussteigen, als sie angekommen waren. Schweren Herzens taten sie es dennoch, wobei Julia von Patrick gestützt werden musste.
“Geh Du alleine, ich glaube, ich schaffe das nicht!” bat Julia ihren Mann unter Tränen. Patrick fasste ihre Hand und drückte sie zärtlich.
“Wie Du meinst, dann sage ich Bescheid, dass einer der Beamten bei Dir bleibt.” So ließ sich Patrick von dem anderen Beamten zum Fundort bringen.
Dort angekommen kam ein untersetzter, aber kräftig gebauter Mann in einem grauen Trenchcoat auf sie zu und begrüßte Patrick.
“Hauptkommissar Welp, guten Abend. Herr Patrick Westerfeld, nehme ich an?”
“Ja, der bin ich. Wo sind meine Kinder?”
Patrick wollte es hinter sich bringen. Ein unbeschreiblicher Schmerz für Eltern, wenn sie ihre Kinder zu Grabe tragen müssen und unter solchen Umständen natürlich noch viel mehr. Somit wollte er schnell Gewissheit haben, ob es sich tatsächlich um seine Kinder handelte.
“Bevor ich Sie zu den Kindern bringe… es ist kein schöner Anblick, um es vorsichtig auszudrücken. Sie entscheiden, wie viel Sie sehen wollen, die Gesichter müssen sein, wegen der Identifikation.”
“Was heißt kein schöner Anblick ? Woran sind sie gestorben?”
“Das kann abschließend nur die Autopsie klären, was genau die Todesursache war. Offensichtlich sind sie in eine etwa fünfzehn Meter tiefe Erdspalte gestürzt, mitsamt ihren Fahrrädern. Durch den Aufprall haben sie definitiv tödliche Verletzungen davongetragen, aber ob diese Verletzungen die tatsächliche Todesursache war, oder ob sie vielleicht sogar vorher umgebracht wurden…
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