“Ich weiß nicht, hab´ ich noch nicht drüber nachgedacht. Ich freu´ mich einfach und mach´ mir keine großen Gedanken.”
“Aber ist es denn nicht gefährlich? Man hört doch immer wieder von Abstürzen.”
“Das Flugzeug ist das sicherste Verkehrsmittel der Welt, kannste überall lesen. Außerdem kommen zum Beispiel im Straßenverkehr mehr Menschen pro Jahr ums Leben, als bei einem Flugzeugabsturz.”, versuchte Jonah seine Schwester zu beruhigen.
“Na ja, wenn Du das sagst.”
“Sag ich! Und jetzt lass´ uns die Sonne weiter genießen und nicht über solche schrecklichen Dinge nachdenken.” Breit grinsend nahm er seine Schwester in den Arm.
Auch wenn sie wahrscheinlich wusste, dass er es nicht böse gemeint hatte, war es ihm doch lieber, das durch diese Geste deutlich zu machen.
Faul und glücklich lagen sie nun still nebeneinander auf der Decke. Die Welt konnte so ruhig und friedlich sein. Konnte.
Denn der Frieden währte nicht lange. Plötzlich gab es ein lautes Krachen, wie als wenn mehrere dicke Baumstämme gleichzeitig zerbarsten. Es hörte sich zwar relativ weit entfernt an, aber trotzdem schauten sich die beiden beunruhigt an.
“Was war denn das?” Elise hatte vor großer Furcht ihre hellblauen Augen weit aufgerissen.
“Keine Ahnung. Aber so, wie sich das angehört hat, war es nicht in der Nähe.“
Damit hatte sich Jonah aber geirrt, denn auf einmal begann die Erde zu wackeln, begleitet von dem gleichen Krachen wie zuvor, diesmal aber lauter und näher.
Erst war es so, als wenn jemand an der Decke zurren würde, doch das Wackeln und Zittern wurde immer stärker.
“Oh mein Gott, ich glaub´ das ist ein Erdbeben! Elli, schnell, hilf mir die Sachen einzupacken, damit wir verschwinden können!”
Blankes Entsetzen war in ihre Gesichter gefahren. Erdbeben? So was gibt’s doch nur in Amerika oder Japan, aber doch nicht hier! Es wurde immer schlimmer, erste kleine Risse taten sich im Erdboden neben der Picknickdecke auf.
“Jonnie, beeil Dich!” rief Elise ihrem Bruder zu, die Stimme, ein einziger Ausdruck ihrer Angst.
“Bin gleich soweit, fahr Du schon mal los!”
Doch dazu kam es nicht mehr. Völlig unvermittelt tat sich die Erde auf, genau neben ihrem Picknickplatz. Es geschah so schnell, dass keiner von beiden noch rechtzeitig reagieren konnte. Zunächst war es nur ein schmaler Riss, doch schon im nächsten Moment ein großer Spalt. Immer weiter öffnete sich der Erdboden. Jonah und Elise begannen hinunterzurutschen, sie suchten nach irgendetwas, woran sie sich festhalten könnten, aber es gab nichts. Ihre mitgebrachten Sachen fielen an ihnen vorbei in die Tiefe, das Besteck, die Gläser, die Vorratsdosen.
“Jonnie, ich falle!”
“Versuch Dich mit den Fingern im Boden festzukrallen!”
Ein weiterer Erdstoß ließ sie den Halt gänzlich verlieren. Glücklicherweise rutschten die Fahrräder an ihnen vorbei, die sie etwas abseits abgestellt hatten und verkanteten sich in dem Spalt, so dass die Geschwister von den Rädern aufgefangen wurden. Sie schauten sich erleichtert an und wussten nicht, ob sie vor Angst, oder vor Glück weinen sollten.
Der nächste Stoß nahm ihnen allerdings die Entscheidung darüber ab. Die Erde wackelte heftig hin und her, der Spalt öffnete sich ein Stückchen weiter wodurch die Fahrräder sich aus ihrer Verankerung lösten und scheppernd in ein über fünfzehn Meter tiefes Loch fielen. Die Geschwister Elise und Jonah Westerfeld fielen kreischend und mit Todesangst in den Augen hinterher. Verzweifelte Versuche, sich irgendwo an der vorbei fliegenden Wand festzuhalten, schlugen fehl. Stattdessen schürften sie sich die Fingerkuppen auf. So fielen sie weiter, bis sie mit dem gesamten Schwung des Sturzes auf den harten Boden am Grunde des Lochs aufschlugen.
Ein paar Minuten später hatte sich die Erde wieder beruhigt. Außer in dem Naturschutzgebiet war sonst nirgendwo in der Umgebung etwas Nennenswertes von dem Erdbeben zu spüren gewesen. Übrig blieb lediglich ein etwa zwei Mal zwei Meter großes Loch im Boden, wo kurz vorher noch die Geschwister gemütlich auf ihrer Decke gelegen hatten. Und ein Spalt, der sich quer durch das Naturschutzgebiet entlang zog.
Engelskirchen, Haus der Familie Westerfeld
Es war kurz vor halb acht am selben Abend, als sich die Haustür öffnete und Patrick Westerfeld nach Hause kam. Endlich Urlaub! Nach seiner Beförderung Ende Dezember des Vorjahres hatte er sich lediglich eine Woche im Frühjahr gegönnt. Doch nun standen die ersehnten drei Wochen an.
“Julia, wo bist Du?”, rief er fröhlich ins Haus hinein nachdem er durch die Tür getreten war.
“Oh Patrick, endlich!“ Julia kam ihm entgegen gelaufen, offensichtlich furchtbar aufgewühlt.
„Ich bin völlig verzweifelt. Die Kinder! Sie sollten spätestens um sieben zum Abendbrot zu Hause sein und sind immer noch nicht da! Sie haben sich nicht gemeldet und ihre Handys sind scheinbar ausgeschaltet. Ich mache mir ernsthaft Sorgen! Die beiden sind doch sonst nicht so.”
“Komm Schatz, beruhige Dich doch erst mal. Was hatten sie denn vor, wo wollten sie hin? Es gibt wahrscheinlich eine ganz plausible Erklärung dafür. Akkus leer, die Zeit vergessen, oder so was in der Art.”
“Sie wollten ein Picknick im Naturschutzgebiet machen und sind mit ihren Rädern los, so gegen zwölf war das.” Tränen schossen Julia in die Augen woraufhin Patrick sie beruhigend in den Arm nahm.
“OK. Wir versuchen sie noch mal zu erreichen. Hast Du bei ihren Freunden mal nachgefragt, ob sie vielleicht dort bei jemand sind?”
“Nein.”, schluchzte sie.
“Also gut, Du rufst ihre Freunde an und ich versuche sie über ihre Handys zu erreichen.”
Bei ihren Freunden waren sie nicht, wie die jeweiligen Eltern mitteilten. Und auch die Handys waren nach wie vor nicht eingeschaltet. Nun machte sich auch Patrick Sorgen. Normalerweise waren ihre Kinder die Zuverlässigkeit in Person.
Keine zehn Minuten später saß das Ehepaar Westerfeld im Auto, auf dem Weg ins Naturschutzgebiet, um Elise und Jonah zu suchen.
Naturschutzgebiet bei Engelskirchen
“Weißt Du, ob sie hier irgendwo einen Lieblingsplatz oder so haben?” fragte Patrick, als sie angekommen waren.
“Nein, keine Ahnung.”, schniefte Julia. Sie konnte und wollte ihre Tränen nicht zurückhalten.
“Dann müssen wir auf gut Glück suchen.” Patrick stieg aus, ging um das Auto und öffnete die Beifahrertür.
„Komm Julia. Hier rumsitzen hilft uns nicht.“ Fast widerwillig stieg sie aus. Sie hätte es nicht erklären können, aber irgendwie sträubte sie sich gegen die Suche.
Nach zwei Stunden gaben sie verzweifelt auf und kehrten zum Auto zurück. Es war einfach ein zu großes Gebiet mit viel zu vielen Möglichkeiten, wo sie sein könnten.
“Lass´ uns die Polizei verständigen, die haben doch noch ganz andere Möglichkeiten, als wir. Wir laufen hier doch nur planlos durch die Gegend. Das bringt doch nichts.” “Ja, ich denke Du hast Recht.”
Völlig verängstigt, was mit ihren Kindern passiert sein mag, setzte Julia sich wieder ins Auto. Währenddessen rief Patrick bei der Polizei an. Er schilderte der Dame vom Notruf die Situation, was sie bisher unternommen hatten und wo sie sich gerade aufhielten.
“Sie schicken uns einen Streifenwagen.” sagte er, als er sich zu Julia ins Auto setzte.
“Einen Streifenwagen? Die sollen gefälligst mit einer Suchmannschaft hier anrücken und nicht nur mit einem läppischen Streifenwagen!”
Julia Westerfeld wusste nicht, ob sie nun mehr wütend auf die Polizei, oder besorgt um ihre Kinder sein sollte.
“Nun beruhige Dich doch bitte etwas, Schatz. Die wissen schon was sie tun. Die haben doch schließlich tagtäglich mit vermissten Personen zu tun.”, versuchte Patrick seine Frau etwas zu trösten, strich ihr dabei mit der Hand über den Kopf. Sie schüttelte ihn ab, zu groß waren die Sorgen um Elise und Jonah. Ja, ja, sicher, die hatten da sicherlich mehr Erfahrung, aber hier ging es jetzt um IHRE Kinder!
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