Professor Massmann erhob seine Stimme, so laut er konnte:
“Ruhe!”, brüllte er aus Leibeskräften. Niemand reagierte, also setzte er noch mal an, diesmal noch energischer. “Ich sagte RUUUHEEE!!!”
Langsam verstummte die Gruppe seiner zwölf Studenten. Sie schauten ziemlich verwirrt auf ihren Professor, der mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck vor Ihnen stand. Alle warteten gespannt auf das, was nun kommen möge. Er schaute wie geistesabwesend Löcher in die Luft.
“Herr Professor, alles in Ordnung mit Ihnen?”, fragte Werner mit leichter Beunruhigung in der Stimme.
“Pst, hört ihr das?” Massmann legte einen Zeigefinger an die Lippen und hielt den anderen in die Höhe. Alle senkten die Köpfe und horchten. Ein tiefes Brummen war zu hören, begleitet durch leichte Erschütterungen, die das Lager erfüllten. Mittlerweile war die Lautstärke so angeschwollen, dass sie diesmal wahrscheinlich selbst den Jubel der Studenten übertönt hätte.
“Packt alles zusammen! Wir müssen weg, SOFORT!”, schrie Massmann seinen Studenten zu und war auch schon dabei seine wichtigsten Sachen einzupacken.
Es bedarf keiner weiteren Aufforderung, nachdem nun auch die ersten Steine begannen, von der Decke zu rieseln. Eiligst wurden sämtliche Utensilien notdürftig in Rucksäcke und Tragetaschen verstaut. Als alles irgendwie untergebracht war, machte sich eine gewisse Ratlosigkeit breit.
“Wohin sollen wir gehen, in welche Richtung?”, fragte Dieter, einer der ruhigsten aus der Gruppe.
“Ja, wir wissen doch gar nicht aus welcher Richtung das Geräusch kommt und was es ist. Und was machen wir mit den Kisten? Die Können wir doch nicht hier lassen!” , setzte Anton nach.
“Wartet. Lasst mich versuchen zu hören aus welcher Richtung die Geräusche kommen.”, bat Massmann. Der Professor konzentrierte sich und horchte in die Höhle hinein. Es war schwer festzustellen, woher das Grollen in dem Gestein kam. Schließlich aber hatte er sich für eine Richtung entschieden.
“Kommt mit, hier entlang.”, rief er und marschierte los.
“Aber in der Richtung sind wir noch überhaupt nicht gewesen.”, widersprach einer der Studenten, wieder war es der sonst so stille Dieter.
“Wir haben keine Wahl. Das Zentrum dessen, was auch immer da vor sich geht, scheint aus genau der anderen Richtung zu kommen. Verirrt haben wir uns sowieso schon. Also los!”, forderte Massmann die Gruppe auf, ihm zu folgen.
“Aber unsere Funde, die Kisten! Wollen Sie die etwa hier zurücklassen? Das können wir nicht machen! Das sind bedeutende Funde, die wir hier gemacht haben!”, rief Werner und wiederholte damit den Einwand, den Anton bereits gemacht hatte. Er machte nicht den Eindruck ohne die Kisten gehen zu wollen.
Die Funde. Das waren in fünf Holzkisten verstaute, mumifizierte Tierleichen, sowie zwei etwas größere. In diesen befanden sich die wohl erstaunlichsten Funde, die jemals aus archäologischer Sicht gemacht wurden.
Eines verband alle Funde miteinander, das erstaunliche Aussehen, als wären all diese Lebewesen erst vor kurzem gestorben. Manchmal, seitdem die Leichen verpackt waren, schien es sogar so, als würde von innen leise gegen die Kisten geklopft.
Zunächst hatte sich eine gewisse Angst unter den Expeditionsteilnehmern breit gemacht, aber das Klopfen dann irgendwann nicht weiter beachtet und auf die Zeit in der Dunkelheit geschoben und als Einbildung abgetan. So etwas konnte ja auch gar nicht sein, völlig irrational!
Alle Funde wurden in relativer Nähe zueinander gemacht. In einer verschütteten und abgeschotteten Kammer, die mit einem seltsamen Rauch gefüllt war, der nicht einmal entwich, nachdem sie die Kammer geöffnet hatten. Dieser Umstand war es, der den Professor dazu bewegt hatte, es irgendwie zu schaffen, den Rauch mit in die Kisten zu bekommen und dann die Kisten so luftdicht wie möglich zu verschließen. Er war davon überzeugt, dass es mit diesem Rauch zusammenhängen müsse, dass die Leichen so gut erhalten waren.
“Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, leider. Es steht zu befürchten, dass hier alles einstürzt. Wir müssen uns beeilen von hier fort zukommen. Wenn wir hier raus gekommen sind, werden wir versuchen unseren Weg zu rekonstruieren und dann die Artefakte bergen. Und jetzt keine Widerrede mehr und schnell weg!” Massmann verlor langsam die Geduld.
So liefen sie also noch tiefer, in einen ihnen völlig unbekannten Bereich, in die Höhle hinein. Das Grollen wurde immer lauter. Steine, die von der Decke brachen, waren zu hören, erste Wände, die einstürzten.
Es war ohne Frage sehr bedauerlich, dass sie die Artefakte zurücklassen mussten. Welche Bedeutung diese für die Wissenschaft gewesen wären, mag man sich gar nicht ausmalen. Aber hier ging es jetzt um das Leben eines jeden einzelnen. Sie liefen völlig orientierungslos durch das Labyrinth der Gänge. Das Grollen und Beben schien aber dennoch immer näher zu kommen.
Plötzlich gab es einen ungeheuren Erdstoß, die gesamte Höhle wackelte. Durch diesen Stoß wurde die flüchtende Gruppe umgeworfen, sie fielen übereinander, weitere Wände und Decken stürzten ein. Eine Staubwolke breitete sich aus. Als der Staub sich wieder etwas gelegt hatte, war es irgendwie etwas heller in dem Gang geworden.
Professor Massmann blinzelte sich die letzten Staubkörnchen aus den Augen und sah sich um. Dort, etwa zwanzig Meter über ihnen war ein kleiner Schlitz im Gestein zu erkennen, durch den, so schien es jedenfalls, ein wenig Sonnenlicht in die Höhle drang. Der Weg dort hinauf allerdings führte über lose Steinhaufen, die so aussahen, als wenn sie bei dem kleinsten unbedachten Schritt in sich zusammen fallen konnten. Auch der Schlitz sah nicht besonders groß aus. Ob sie da überhaupt durch kommen konnten? Konnte man den Spalt vergrößern? Andererseits mochte die Größe durch die Entfernung aber auch täuschen.
“Du bist der Kleinste und Schmalste von uns, Werner. Meinst Du, Du schaffst es heil dort hinauf, um nachzuschauen, ob wir da herauskommen?” , fragte Massmann.
Werner blickte hinauf in die Richtung, in die der Professor zeigte. “Es wird sicherlich nicht leicht, aber unser aller Leben steht auf dem Spiel! Ich denke, dass das zu schaffen sein wird.” , antwortete dieser.
“Sei vorsichtig!”, rief ihm Massmann hinterher.
Er musste es schaffen. Durch das letzte Beben waren alle anderen Wege verschüttet worden. Dies war jetzt der letzte Ausweg. Entweder es klappte, oder sie würden hier alle verhungern und verdursten. Also machte sich der 1,68m große, einundzwanzig Jahre alte Werner Tiefental an den Aufstieg.
Es war noch beschwerlicher, als es ausgesehen hatte. Ständig rutschten Steine aus ihrer Position und fielen polternd hinunter. Dazu kam, dass immer wieder kleinere Beben das gesamte Höhlensystem zum Wackeln brachten.
Nach einer knappen Stunde hatte er es fast geschafft, als ein neues Beben einsetzte. Nur diesmal schien es gar nicht mehr aufhören zu wollen. Es war nicht so schwer, wie die ersten, dauerte aber länger an. Werner musste sich festhalten, um nicht in Gefahr zu kommen wieder runter zu rutschen.
“Aufpassen da unten! Es könnten gleich ein paar größere Brocken auf Euch zu kommen!” , warnte Werner seine Mitstreiter.
“Wie weit hast Du es denn noch?”, wollte Anton wissen.
“Ich weiß es nicht genau, zwei bis drei Meter vielleicht noch. Ich kann aber schon etwas draußen erkennen. Da ist eine große, brach liegende Fläche, sieht fast wie eine Wüste aus.”
“Klettere weiter und schau nach, ob Du den Spalt breiter bekommst. Wir passen hier unten schon auf!” Massmann hoffte auf das Beste, das dieser Albtraum bald ein Ende haben würde.
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