Nur der Einreisestempel in seinem Pass weist darauf hin, dass Petermann bereits im Land war, bevor Finn Schütte starb. Ins Meldebuch des „Serena“ hatte er sich als direkt aus Hamburg kommend mit dem 31. Dezember als Ankunftstag eingetragen. Wenn er seinen Pass vernichten würde – was hoffentlich nicht nötig wird –, gäbe es seinen Namen nur noch auf den Passagierlisten der Klm und auf dem Doppel der handschriftlichen Einreiseerklärung, die er am Flughafen abgeben musste. Beide Papiere dürften für die tansanische Polizei nicht besonders greifbar sein: Das eine steckt irgendwo im Klm-Computer, das andere liegt unsortiert unter Bergen weiterer Kopien am Flughafen herum. Noch kann Petermann sich also halbwegs sicher fühlen, säße er nicht in einem 230-Dollar-Zimmer, das er sich nicht lange leisten kann.
Heute aber lässt sich nichts Rechtes mehr unternehmen. Die halbe Welt hat Feiertag. Wie diesen Tag aushalten? Vierundzwanzig Stunden tatenlos in einem der teuersten Hotels der Stadt herumsitzen? Dar es Salaam zu verlassen, kommt schlicht noch nicht in Frage. Bevor er von der Bildfläche verschwindet, braucht er zumindest zweierlei: die Golftasche mit dem Metalldetektor und Finns Karte aus dem Staatsarchiv. Ohne diese beiden Sachen sind Finns Informationen über den zu erwartenden Fundort des Familienschatzes wertlos, da hilft auch keine baumgenaue Angabe in irgendeinem Brief.
Was steht überhaupt in den Erinnerungen von Finns Großvater? Petermann liest den Brief noch mal, um sich die Worte einzuprägen: „Von der Südostecke des Hauptgebäudes 620 Fuß nach Süden, bis an die Wurzeln des alten Mangobaums, von dort siebzig Schritte nach Osten, dann nochmals dreißig nach Süden.“ Wenn der sich man nicht vertan hat! Und dann dieses Maß: 620 Fuß! Zur Jahrhundertwende, das hat Petermann schon in Hamburg recherchiert, waren das ganz nach Weltanschauung mal 150, mal mehr als 200 Meter! Ob es das Gelände so überhaupt noch gibt, ob der Baum nicht schon hundertmal überflutet und entwurzelt wurde? Petermann hofft, dass es zumindest nicht zu viele alte Mangobäume auf dem Gelände gibt, wenn er es denn jemals finden sollte.
Fieberhaft überlegt er, wie er an die beiden noch fehlenden Ausrüstungsteile kommt. Ein Metalldetektor lässt sich zur Not vielleicht nochmals irgendwo beschaffen, die Karte jedoch gibt es nur hier. Hätte Finn sie bereits in der Hand gehabt, hätte er sie ihm bestimmt gezeigt. So liegt die Kopie wohl noch bei der Sekretärin im Nationalarchiv. Solange er sich aber verfolgt fühlt, zögert er Risiken einzugehen. Abschalten oder Abbrechen, das ist jetzt die Frage: entweder den Feiertag im „Serena“ aussitzen, Angst abbauen und Pläne schmieden, oder aufgeben und direkt zur Botschaft, um heil aus der Sache herauszukommen. Ein einfaches Umbuchen seines Rückflugs, der erst für den 27. Januar geplant ist, kommt nicht in Frage. Das wäre allzu auffällig, auf sowas achtet jede Polizei.
Nachlassverwalter haben es nicht leicht. Irgendwann am Nachmittag, nach einem halben Dutzend Colas am Pool des „Serena“, hat Petermann sich entschieden. Er wird die Suche nach Finns Schatz durchziehen, auch wenn’s gefährlich werden sollte. Was kann ihm als Ausländer schon groß passieren? Er hat nichts verbrochen, und für Notfälle ist die Botschaft da.
Heute ist Donnerstag, der erste Januar, die Nacht kostet über 200 Dollar, aber lässt sich auch per Kreditkarte bezahlen. Morgen wird er weitersehen und schauen, wie er an Direktor Rohs Sekretärin herankommt. Unwahrscheinlich, dass sie vom Tod ihres Auftraggebers, der sie die Karte kopieren hieß, bereits etwas weiß. Irgendwann danach würde er noch mal ins „Continental“ müssen, um den Detektor zu holen – falls den nicht längst die Polizei beschlagnahmt hat. Vorher kann er ja versuchen herauszubekommen, ob sich so ein Ding auch in Dar es Salaam auftreiben lässt. Da das erneute Auftauchen im „Continental“ das größte Risiko birgt, will er damit bis kurz vor seinem Verschwinden warten.
Wilfrem Fundikira ist zufrieden. Makaïdi lässt ihn im Keller des Polizeipräsidiums Asservate sichten. Dort ist es kühler als im Büro oben oder beim Chef selbst, auch wenn der das einzige Büro des ganzen Traktes hat, dessen Klimaanlage meist funktioniert. Nach der Feierei gestern Abend tut die Kühle gut. Fundikira freut sich, dass er sich hier unten erholen kann.
Den hellhäutigen Toten hatten sie am Silvesternachmittag mit dem Leichenwagen vom Hotel zum Restaurant seines Bruders gekarrt und dort, nach einer kurzen, kostspieligen Auseinandersetzung, in der Tiefkühltruhe deponiert. Danach waren er und Baregu zurück ins „Continental“ gefahren, wo ihr Chef von seinem Sessel aus das Personal vernahm. Als seine beiden Assis wieder am Tatort erschienen waren, hatte Makaïdi sich augenblicklich erhoben, die Vernehmungen abgebrochen und ihnen überlassen und war verschwunden. Ihre Fragen hatten sie hernach auf den Besucher konzentriert, den der Tote zuletzt hatte. Es war offenbar der gleiche Mann, mit dem er sich das Zimmer geteilt hatte. Angekommen war der vor zwei Tagen, und seit dem Morgen nicht wieder aufgetaucht.
Später hatten sie das Hotelzimmer versiegelt und nur leicht tragbare Sachen mitgenommen, schließlich waren sie zu Fuß. Demnächst würden sie das Zimmer ein zweites Mal inspizieren und die größeren Stücke abholen. Solange bleibt der Raum gesperrt.
Zeter und Mordio schreiend war der Hoteldirektor bei ihrem Rückzug auf sie losgegangen: Die Polizei könne doch nicht einfach Hotelzimmer schließen, wer komme denn für den Mietausfall auf? Ein 50.000-Shilling-Zimmer mitten in der Hochsaison leer stehen lassen, nur weil darin ein mzungu zu Tode gekommen ist, das sei schlimmer als jede Sünde! Im Bewusstsein, die Interessen seines Chefs zu vertreten, hatte sich Fundikira ins Fäustchen gelacht, war stur geblieben und wähnte sich rein rechtlich sowieso auf der sicheren Seite. Sollte sich der Hotelboss doch an die Erben des Deutschen wenden!
Im Keller jetzt, beim Sichten von Schuttes Hinterlassenschaft mitten zwischen den vielen Resten vergangener Verbrechen, verlässt sich Makaïdis bester Mann weniger auf seinen Verstand denn auf Intuition. Systematisch, strukturiert zu arbeiten fällt ihm sowieso stets schwer. Der Tote hat sich nass rasiert, klassisch für Schwule, oder? Beine, Achseln und Scham aber waren haarig, das hatte er gesehen. Auch gab es kaum Parfüm im Zimmer, auch das – wie Wilfrem annimmt – nicht gerade typisch für einen Homosexuellen. Aus einem Kulturbeutel im Bad hatten sie noch ein Päckchen europäischer Kondome rausgefischt, unbenutzt, zu klein und eher elegant als stark, die Fundikira gut gebrauchen kann und so dezent verschwinden lässt. Die Medikamentenliste ist vollständig, wie von wazungu gewohnt: Zwei verschiedene Anti-Malaria-Mittel, beide so brandneu und teuer, dass der Polizist sie bislang nur vom Hörensagen kennt, Dutzende Pillen gegen Reisekrankheiten und Durchfall, Jod- und andere Salben, ein Töpfchen Vaseline – zum Vögeln? –, Sonnenschutzcreme sowie zwei Spezialmittel, deren Wirkung Fundikira noch ermitteln muss. Nirgends ein Impfpass.
Im Gepäck des Toten gibt’s auffällig viel beschriebenes Papier, einige Kopien, ein teures Diktiergerät – das auf der Asservatenliste von nun an fehlen wird –, ein einfaches mobile , codiert und somit wertlos, mehrere Bücher, vermutlich Reiseführer („Tanzania – Ein Reisehandbuch“, EXpress edition, und einige andere mehr, die Fundikira peinlich genau asserviert), eine Handvoll Karten und Dutzende von Kugelschreibern. Zuviel für gewöhnliche Touristen, findet Fundikira, der drei für sich einsteckt. Was wollte der mzungu hier?
Papiere, die dessen Identität betreffen, fehlen nach wie vor: Kein Pass, nirgends das Doppel seiner Einreiseerklärung, weder Kreditkarten noch Schecks. Nichts, außer des nie wieder zu erwähnenden Hundert-Euro-Scheins unter der Einlegesohle in einem der Schuhe des Toten. „Dort darfst du nie vergessen nachzuschauen!“, hatte Wilfrem ein pensionierter Kollege empfohlen, der noch unter den Briten diente. „Das lohnt sich!“
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