»Findest du? Ich hätte meiner Mutter helfen können, wenn ich geblieben wäre.«
»Dich trifft keine Schuld, Fionn. Wir wissen nicht, was im Einzelnen geschah, oder?«
Er seufzte. Seine Hand öffnete sich und er umfasste ihre Finger. »Die Diener sehen das anders. Es gab Gerüchte, Ari. Viele Gerüchte. Keines davon warf ein gutes Licht auf meinen Vater. Ich will alles dafür tun, um nicht wie er zu werden.«
»Natürlich«, entgegnete sie mit einem Lächeln.
In dem Moment hielt die Kutsche an. Er löste ihren Kontakt und griff an ihr vorbei, um die Tür zu öffnen.
Ein bereitstehender Diener verneigte sich. »Willkommen zurück in Farnàl, Prinz Fionn nebst Gemahlin, Prinzessin Ariana von Tarnàl.«
Hohe Mauern umgaben sie wie ein unheilvolles Gemäuer, ein Labyrinth des Todes. Sie fröstelte und schüttelte sich kurz, um den Schauer wieder loszuwerden. Nur wenige Fenster waren in die Wände eingelassen. Wachmänner standen vor sämtlichen Eingängen. Ariana lehnte diesen Zustand in ihrem Innersten sofort ab. Sie beschloss, mit Fionn darüber zu sprechen, sobald es sich ergab.
Er ergriff ihren Arm und schritt mit ihr auf eine breite Eingangstür zu. Hier gab es keine Zugangstreppe wie in Tarnàl, keine freundlichen Gesichter, keinen großen Garten. Farnàl glich in all seiner Düsternis fast einer Grabstätte.
»Da seid ihr endlich!«, erklang eine tiefe, kratzige, aber eindeutig erfreute Stimme. Ihnen eilte ein korpulenter, etwas klein gewachsener Mann entgegen. Ein warmes Lächeln dominierte seine Züge. Er breitete die Arme aus und zog erst sie, dann seinen Sohn in eine herzliche Umarmung.
»Es ist lange her, Prinzessin«, meinte er. »Erlaube, dass ich mich ein weiteres Mal vorstelle: Ich bin Fionns Vater, König Persàl von Farnàl.«
Ariana erwiderte die Begrüßung mit einem hoheitlichen Knicks. »Ich bin erfreut, Euch zu sehen, mein König.«
»Ach, Mädchen«, fuhr er fort, kaum dass sie wieder aufrecht stand, »das wurde ja höchste Zeit!« Seine Stimme tönte weithin vernehmlich über den Hof. Ariana blinzelte irritiert. Niemand hatte sie je zuvor »Mädchen« genannt. Sie schaute zu Fionn hinüber, der jedoch nur mit der Schulter zuckte und ihre Hand in seine Armbeuge legte. Persàl deutete auf die Tür.
»Lasst uns hineingehen. Ihr seid sicher erschöpft, durstig und hungrig von der Reise hierher. Wie geht es König Arlàn?«
»Er grüßt Euch herzlich«, erwiderte Ariana.
»Es ist Jahre her, dass wir uns begegnet sind. Damals weilte deine Mutter noch unter uns.«
»Wir haben nie erfahren, ob sie tot ist.«
»Sie verschwand einfach, nicht wahr? Verzeih, ich wollte sicher keine alten Wunden aufreißen.«
Fionn schnaubte und Persàl wandte sich ihm zu. »Es ist auch schön, dich wiederzusehen, Sohn. Dein letzter Besuch wurde ja leider von einem anderen Ereignis überschattet. Es ist lange her.«
»Spar dir das, Vater. Wir wissen beide, dass wir einander nicht viel zu sagen haben.«
»So?« Der König sah seinen Abkömmling brüskiert an. »Dann frage ich mich allerdings, warum du mit deiner Frau überhaupt hergekommen bist?«
»Über die Details sprechen wir besser drinnen. Ariana begleitet mich, da ich sie dir aus reiner Höflichkeit nicht vorenthalten wollte.«
»Wie anständig von dir. Die Erziehung deiner Mutter hat in dem Fall wohl etwas genützt, nicht wahr?«
Der schneidende Tonfall war Ariana unangenehm. Die Muskeln in Fionns Arm spannten sich unter ihrer Hand an und wieder ballte er seine Hand zur Faust.
Sie räusperte sich. »Ich freue mich darauf, Farnàl näher kennenzulernen.«
Persàl löste seinen Blick von Fionn und lächelte sie an. »Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Tochter von Tarnàl.«
Sie ließen die Eingangstür hinter sich und betraten einen lang gezogenen Flur. Ariana betrachtete die rötlich gefärbten Wände, die Kristallleuchter, die von der Decke baumelten und die wenigen Fenster, die kaum Tageslicht spendeten und zudem von bodenlangen, schweren Vorhängen umrahmt wurden. Wie sollte sie sich an diesem Ort wohlfühlen? Es erschien ihr zunehmend unrealistisch, diesen Palast als Heim zu betrachten.
Persàl öffnete eine Tür aus dunklem Holz und führte sie in den Raum. Es war nicht der Thronsaal, dafür war das Zimmer zu klein gehalten. Ein paar schlichte Sitzmöbel – zwei Stühle und ein Hocker – fanden sich darin. Ein Fenster neben dem ausladenden Kamin ließ natürliches Licht hinein.
»Nun, Fionn«, begann Persàl und deutete auf die Stühle. »Was führt dich und deine wunderschöne Gemahlin hierher, wenn schon nicht deine Vermählung und der Verlust deiner Hand?«
Als der Prinz einen Blick auf seinen Armstumpf warf, lachte Persàl. »Wir haben vielleicht kein gutes Verhältnis zueinander, aber denkst du nicht, dass ich es bemerken würde, wenn dir eine Gliedmaße abhandenkommt?« Einen Moment lang taxierten sie einander abschätzig. »Bitte«, sagte er, »setzt euch.« Dann wandte sich Persàl lächelnd Ariana zu. »Darf ich dir eine Erfrischung bringen lassen?«
Sie nickte dankbar und der König übertrug einem Dienstboten den Auftrag. Anschließend schloss er die Tür, trat an den Kamin und lehnte sich lässig an den Sims.
»Also? Was ist los?«
Fionn räusperte sich. »Da du direkt fragst«, sagte er, »ich beabsichtige, mich zum neuen König von Farnàl ausrufen zu lassen.«
Ariana erstarrte. Hegte er diese Absicht seit ihrer Hochzeit?
Persàl schaute gelassen drein, wenn auch mit einer neugewonnenen Härte im Blick. »Ist das so?«, fragte er.
»Ich habe eine Ehefrau, wohingegen du bloß ein alter Machthaber bist, der keine weiteren Nachkommen außer mir vorzuweisen hat. Es ist mein gutes Recht, als Prinz die Nachfolge des Herrschers anzutreten und dich abzusetzen. Ich hätte das bereits vor Jahren tun sollen.«
»Hat er dir von seiner Intention erzählt?«, wandte sich Persàl an Ariana. Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast also nicht einmal daran gedacht, deine geschätzte Gattin einzuweihen? Wann ist dir die Idee zu diesem hinterhältigen Vorhaben gekommen, mein Sohn? Auf dem Weg hierher? Vorher?«
Fionn ließ Arianas Hand los und verschränkte die Arme. »Das ist irrelevant. Ich werde es tun – mit oder ohne deine Einwilligung. Unsere Zukunft liegt in diesem Haus.«
»Ach, eure Zukunft?« Der König erhob seine Stimme. Obwohl er und Fionn äußerlich kaum Ähnlichkeiten aufwiesen, zeigten sie sich in ihrem Charakter: Er ballte ebenfalls die Fäuste, als wollte er liebend gerne auf etwas – oder jemanden – einschlagen. »Du kommst hierher mit deiner Frau und beschließt einfach so, mich vor die Tür zu setzen? Was erlaubst du dir!«
Der König schritt auf und ab. Der mühsam gezügelte Aufruhr war deutlich an seinen Zügen abzulesen.
»Fionn«, flüsterte Ariana. Doch er ignorierte sie.
»Die Gesetze Farnàls bieten mir ausreichend Machthabe, um meinen eigenen Vater zu entmachten und den Platz einzunehmen, sobald der Eindruck entsteht, der König sei zu alt oder unqualifiziert, der Verantwortung weiterhin gerecht zu werden.«
Persàl stemmte seine Hände in die Hüften und schaute böse auf Fionn hinab. »Das findest du? Du glaubst, ich sei alt? Unqualifiziert? Denkst du denn, ich räume dir den Thron frei, bloß weil du nach einer Ewigkeit hier unvermittelt aufkreuzt und dein kleines Frauchen mitbringst – verzeih mir den unflätigen Ausdruck, Prinzessin. Offensichtlich habe ich mich all die Jahre in dir geirrt. Deine Erziehung wurde furchtbar vernachlässigt.«
»Und wessen Schuld ist das?«
Die beiden Männer starrten sich über Arianas Kopf hinweg an. Inzwischen war auch Fionn wieder auf den Beinen. Sie fochten einen unausgesprochenen Kampf aus und Ariana beschloss, dass sie nicht dabei sein sollte. Es war ein Problem zwischen Vater und Sohn, das bereits lange vor ihr gärte.
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