Martin Frech
Der Schatten ihres Hündchens
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Inhaltsverzeichnis
Titel Martin Frech Der Schatten ihres Hündchens Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Ich hätte einfach nur irgendwann einmal akzeptieren müssen, dass ich ein paar Wochen lang aussehe wie frisch geohrfeigt. Nach einiger Zeit hätte sich meine Gesichtshaut ganz sicher an den neuen Apparat gewöhnt gehabt, und alles wäre gut gewesen. Ich hätte beim Rasieren endlich nicht mehr dieses rasenmäherähnliche Knattern im Ohr gehabt, sondern nur noch ein kaum hörbares, sanftes Summen und wäre während der allmorgendlichen Prozedur nicht mehr akustisch von meiner Umwelt abgeschnitten gewesen. Dann hätte ich auch das Telefonklingeln gehört am späten Morgen des Tages, an dem Christine aus Paris zurückkehrte. Ich hätte Jeremy gesagt, dass ich abends leider nicht mehr in Berlin sein würde, dass in zwei Stunden – oder in drei oder vier – meine Maschine nach Mailand starte – oder nach Sankt Petersburg oder Kuala Lumpur – und dass ich erst wieder in einem Monat zurückkäme. Ich hätte lebhaft bedauert, ihn nicht treffen und kennenlernen zu können, aber die Termine stünden schon seit langem fest, und eine Änderung sei jetzt, in allerletzter Minute sozusagen, niemandem zuzumuten, was er ja sicher verstehen werde. Er hätte es verstanden, und ich hätte abends dann ganz in Ruhe mit Christine den Hahn gegessen, den ich tags zuvor auf dem Markt gekauft hatte. Wir hätten uns gut unterhalten, diskutiert wie in den alten Zeiten, und wie der Abend dann geendet hätte, das wissen die Götter. (Wahrscheinlich nicht viel anders, als er tatsächlich geendet hat. Wahrscheinlich. Fast sicher. Aber eben nur fast.)
Mit meinem alten Rasierer, an den sich meine Haut schon lange gewöhnt hat und auf dem sie sozusagen besteht, hatte ich keine Chance.
Ich hatte mir extra frei genommen an diesem Tag, hatte ausgeschlafen, um etwas weniger abgehalftert auszusehen, hatte die Wohnung in Ordnung gebracht und alles vorbereitet. Ich hatte später auch den Radfahrer Martin-Luther- Ecke Hohenstaufenstraße nicht umgefahren, obwohl er das offensichtlich angestrebt hatte, so, wie er sich vor den Kühler meines Alfa schob, und obwohl ich ihm sehr gerne den Gefallen getan hätte. Ich mochte damals Radfahrer noch nicht besonders, und ich hatte auch nie das Gefühl, dass einer von ihnen mich mochte. Aber ich wollte rechtzeitig am Flughafen sein, und ich war rechtzeitig am Flughafen.
Christine sah wunderbar aus, als sie in die Halle herauskam. Sie wusste nicht, dass ich sie abholte, sah mich zunächst auch nicht, und ich ließ sie einige Schritte gehen und folgte ihr mit den Augen. Sie wirkte überhaupt nicht müde und bewegte sich sofort zielstrebig auf den Ausgang zu. Ich habe ihr immer gerne beim Gehen zugeschaut. Besonders, wenn sie etwas schneller geht, schwingen ihre Arme auf eine Art nach hinten aus, die sie sehr weiblich und sehr begehrenswert macht. In diesem Moment vollführte allerdings nur der linke Arm diese Bewegung, und so beeilte ich mich schließlich doch, ein paar Schritte auf sie zu zu machen, um ihre Rechte von dem Koffer zu befreien. Der Moment war schön, als sie mich bemerkte, die Überraschung und auch die Freude, die sie zeigte. Sie freute sich wirklich. Sie blieb abrupt stehen, einen Moment lang stand ihr Mund offen, ohne dass ein Wort herauskam, dann sagte sie nur meinen Namen, dann fiel ihr Blick auf die Rosen, die ich in der Hand hatte – zugegeben ein ziemlich dicker Strauß, ich hatte alle genommen, die der Händler von dieser Sorte da gehabt hatte, weil ich wusste, dass sie sie mochte – schließlich schaute sie wieder mich an, lächelte und schüttelte leicht den Kopf. Sie sei doch gerade einmal zwei Wochen weg gewesen, sagte sie, und ich verbesserte sie und sagte, es seien zweieinhalb gewesen. Als wir im Freien waren, stöhnte sie, es sei ja noch genau so heiß wie bei ihrer Abreise, und ich fragte, ob es denn in Paris angenehmer gewesen sei und öffnete das Verdeck. Im Gegenteil, sagte sie, es sei noch schlimmer gewesen als hier, weil es ja kaum Bäume gebe in den Straßen. Sogar Raymond habe über die Hitze geklagt, obwohl für ihn als Katalanen ja diese Sommertemperaturen von Kindheit an Normalität gewesen seien. Er habe nur noch in den Jardin du Luxembourg gehen wollen, wenn sie zwischendurch einmal einen kleinen Spaziergang gemacht hätten, das sei der einzige Ort, habe er gesagt, wo man noch die Chance habe, ein bisschen Wind um die Nase zu bekommen.
„Raymond?“, sagte ich.
„Raymond, ja.“ Sie schaute mich forschend an. „Bist du gerade ein bisschen geistesabwesend?“
Ich spürte, wie sich schlagartig in meiner Magengrube Ärger entwickelte und hochstieg. Ich hasste dieses Sich-ahnungslos-Stellen von ihr, und sie wusste es und tat es immer wieder. Wenn ich dann nachfragte, ganz direkt, und ihr keine Ausweichmöglichkeit mehr ließ, war sie es, die wütend wurde. Ich verkniff es mir also, eine Bemerkung dazu zu machen, dass sie und dieser Pellotier sich jetzt offensichtlich duzten und sagte etwas, was auf jeden Fall nicht besser war: „Und was habt ihr sonst noch so gemacht?“
„Gearbeitet.“ Ihre Stimme klang mit einem Mal ziemlich kühl.
Ich schwieg und fuhr los. Sie schwieg auch. Wir fuhren den Saatwinkler Damm hinunter, Richtung Moabit. Es hätte so schön sein können. In den Kleingärten zu unserer Rechten blühten Hortensien, Dahlien und Gladiolen, und in der zittrigen Luft über dem Grasstreifen zwischen Straße und Hohenzollernkanal schwankten Kohlweißlinge und Zitronenfalter. Wir aber schwiegen. Ich merkte, wie Christine mich von der Seite anschaute.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig!?“
Ich sagte, dazu hätte ich ja wohl kein Recht.
Sie fuhr fort, mich anzuschauen. Ich schaute auf die Straße.
„Raymond ist 72“, sagte sie schließlich, in einem Ton, als würde das jede weitere Erklärung überflüssig machen.
Ich sagte: „Goethe hat mit 73 noch Ulrike von Levetzow angebaggert. Da war sie gerade mal 18.“
„Er hat sie aber nicht gekriegt.“
Wir hatten vor ziemlich langer Zeit einmal beide an einem Hauptseminar mit dem Titel „Goethes Frauen in Leben und Werk“ teilgenommen. Davon zehrten wir heute noch. Im Übrigen klang Christines letzte Bemerkung so, als sei dieses Thema damit für sie beendet. Für mich war es das keineswegs.
„Und Raymond?“, fragte ich weiter und wusste im selben Moment, dass dies eine Frage zu viel gewesen war. Ich hätte viel dafür gegeben, sie wieder zurücknehmen, auslöschen zu können, so, wie ich auch immer wieder Worte und Sätze auf dem Bildschirm auslösche, aber was gesagt ist, ist gesagt, und was gehört ist, ist gehört, und jetzt würde alles umsonst gewesen sein: der freigenommene Tag, die Aufräumaktion zu Hause, der Hahn, die sorgfältige Rasur, das Hetzen zum Flughafen im Berufsverkehr, alles. Christine würde jetzt schreien, toben, explodieren, würde mich sofort anhalten lassen und ihren Koffer aus dem Kofferraum zerren, und den Rest des Tages würde ich dann nach Belieben verbringen können, aber auf jeden Fall ohne sie. Dies alles wurde mir im selben Moment klar. Und letztlich ging diese Reaktion ja auch in Ordnung. Ich hatte nicht das Recht, sie nach solchen Dingen zu fragen oder sogar irgendwelche Geständnisse von ihr zu fordern. Wir waren getrennt, schon seit mehr als einem Jahr, und keiner hatte Ansprüche an den andern zu haben, und ich hatte ja auch keine. Aber ich hatte Wünsche und Sehnsüchte und Hoffnungen, ich war voller Begehren und auch voller Gier danach, sie zu sehen, sie zu berühren – was ich nicht durfte –, sie zu besitzen – was natürlich vollkommen unmöglich war. Ich war dumm, keinen Schlussstrich zu ziehen, ich war dumm, etwas immer noch für möglich zu halten, was schon lange nicht mehr möglich war, und ich war dumm, sie nicht ernst zu nehmen, wenn sie mir genau das sagte.
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