Der erwartete Ausbruch kam nicht. Nichts kam, kein Wort. Ich drehte mich zu ihr hin, und sie lächelte mir direkt ins Gesicht. In ihrem Lächeln lag Enttäuschung und Verachtung und Überdruss.
„Dafür hast du mich also abgeholt“, sagte sie endlich mit ganz ruhiger Stimme, „um mich zu verhören“. Dann wandte sie sich ab, ihr Lächeln verschwand allmählich, und sie schaute nur noch vor sich hin. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und wusste, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Kurz vor der Schleuse brach es dann endlich aus ihr heraus, laut und roh: „Ich will mich aber nicht verhören lassen! Und deinen Rosenbusch will ich auch nicht!“ Sie drehte sich um, packte den Strauß, der mich immerhin an die hundert Euro gekostet hatte, und stieß ihn auf die Straße.
Noch bevor sie mich auffordern konnte, auf der Stelle anzuhalten und sie aussteigen zu lassen, trat ich auf die Bremse, gab aber sofort wieder Gas, weil fast im selben Moment die Reifen meines Hintermannes quietschten und seine Hupe die Sommerluft zerschnitt, schlüpfte etwa zwanzig Meter weiter in eine Lücke auf der Parkspur, stürzte aus dem Auto und rannte zurück zu dem Blumenstrauß, der mitten auf der Gegenfahrbahn lag. Das heißt, ich wollte zurückrennen. Ich hatte höchstens zwei oder drei Schritte gemacht, als ein Lastwagen mit Anhänger das Bouquet überrollte, es in ein Knäuel aus zerbrochenen Stielen, zerfetzten Blättern und zerquetschten Blüten verwandelte – und damit die Situation rettete. Denn was hätte ich getan mit dem Busch, wie Christine den Strauß zu nennen beliebte, wenn ich zu seiner Rettung nicht mindestens mein Leben riskiert gehabt hätte? Wie ein Trottel hätte ich damit vor ihr gestanden und hätte nichts geerntet als Verachtung. So aber taten ihr die grausam zugerichteten Rosen leid, und das kleine Sträußchen aus Schafgarbe, Taubnesseln und Hirtentäschel, das ich ihr als Ersatz geistesgegenwärtig auf dem Grünstreifen neben dem Kanal pflückte, rührte sie, und sie holte ihren Koffer nicht aus dem Kofferraum, sondern entschuldigte sich sogar und lächelte mich wieder an, ein bisschen jedenfalls, und ich durfte sie vollends nach Hause fahren.
Sogar meine Einladung zum Essen am Abend nahm sie an!
„Ich bin ausgezogen. Christine.“
Der Zettel, ein Blatt unseres Tagesabreißkalenders, auf dessen rechten Rand die wenigen Worte gekritzelt waren, lag auf meinem Bett und enthielt keine weiteren Mitteilungen. Ich betrachtete mir kurz das Bild darauf, ein Gemälde von Camille Pissaro, das eine Ansicht des Pont-Neuf in Paris zeigte, dann zog ich mich aus und legte mich hin. Ich machte mir keine Gedanken darüber, ob Christine nur einfach einen Spaß hatte machen wollen oder ob sie wirklich verärgert war. Es war mir egal. Wir hatten zwei Tage später eine Präsentation, an der auch eine große Hamburger und eine Düsseldorfer Agentur teilnahmen, es war ein lohnender Etat, und wir mussten einfach etwas tun, wenn wir eine Chance haben wollten. Sie wusste das, und wenn sie trotzdem der Meinung war, mir zeigen zu müssen, dass sie mit meinem späten Nachhausekommen nicht einverstanden war: bitte! Ich stellte den Radiowecker auf elf Uhr, überlegte es mir aber noch einmal anders, drückte erneut auf das Einstellknöpfchen und machte aus der zweiten Eins eine Zwei. Fünf Stunden Schlaf hatte ich mir verdient nach fast zwanzig Stunden Arbeit.
Pünktlich um zwölf, mit dem letzten Ton des Zeitzeichens, schaltete sich das Radio ein, und die Mittagsnachrichten verscheuchten ziemlich schnell das Gefühl der Bedrückung, das ich unmittelbar nach dem Aufwachen noch empfunden hatte. Nicht, dass mich die Meldungen über einen Flugzeugabsturz vor der Westküste Afrikas, die Stolpersteine, die der Irak UN-Rüstungsinspektoren in den Weg legte oder die in bestimmten Teilen der SPD geführten Diskussionen über die Anhebung des Spitzensteuersatzes in besonders gute Stimmung versetzt hätten. Aber sie waren immer noch viel besser – oder sagen wir: ein bisschen besser – als der Alptraum, den ich wieder einmal gehabt haben musste und an dessen Einzelheiten ich mich, wie meistens, nicht mehr erinnern konnte. Christine sagte immer, ich sei gut im Verdrängen, und das sagte sie so, als ob das ein Makel wäre oder doch zumindest eine Schwäche, die man bestrebt sein müsse, so schnell und so gut wie möglich zu beheben. Ich hatte ihr einmal geantwortet, dass die Fähigkeit zu verdrängen von der Natur in uns angelegt worden sei, um die Welt besser ertragen zu können, und dass es jede Menge Dinge gebe, die man besser nicht dauernd mit sich herumschleppe, aber sie behauptete, dass einen die Monster dann eben im Schlaf überfielen, wie die Tatsache, dass ich ständig von Alpträumen heimgesucht würde, ja beweise. Wir diskutierten oft so lange, bis Christine sagte, wir seien eben sehr verschieden und passten eigentlich gar nicht zusammen, und irgendwann würden wir uns wohl doch trennen müssen. Ich sagte dann, sich zu trennen, weil der eine Alpträume habe und der andere sich beim Aufwachen nicht mehr erinnere, selbst auch welche gehabt zu haben – „ ich habe keine“, pflegte Christine mich an dieser Stelle zu unterbrechen – sei doch ziemlich originell, und Christine giftete zurück, ich wisse genau, dass es nicht das sei, sondern meine Art, mit Dingen umzugehen, die ich selber als falsch und schädlich erkannt hätte und trotzdem täte, weil es nun einmal das Bequemste für mich sei, und ich würde einfach den Gedanken an das Falsche und Schädliche meines Tuns beiseiteschieben und fröhlich weitermachen. Dabei war ich im allgemeinen gar nicht sehr fröhlich, wenn ich an meinem Mac saß und sogenannte Fließtexte für Folder und Broschüren fabrizierte – denn das meinte sie mit dem „falschen“ und „schädlichen“ Treiben, das sie mir vorwarf. Ich galt in unserer Agentur als Spezialist für Texte, die aus mehr als zwei kurzen Sätzen bestanden und in denen womöglich sogar noch hier und da ein Komma oder, ganz exotisch, ein Strichpunkt unterzubringen war: Fließtexte eben. Günter und Robert, die beiden anderen Texter, die in schöner Regelmäßigkeit darauf verwiesen, dass sie eher fürs Creative zuständig seien, nämlich für Slogans und Headlines , Günter und Robert schoben mir so oft wie möglich die entsprechenden Jobs zu. Ich war im Übrigen beim Abfassen meiner Texte auch nicht un fröhlich, obwohl ich vielleicht ab und zu so aussah, sondern einfach konzentriert, weil es nun einmal ein gewisses Maß an Konzentration erfordert, die beworbenen Produkte so zu präsentieren, als wären sie mindestens perfekt, ohne dabei den Eindruck zu machen, zu dick aufzutragen oder gar zu lügen. Womit wir wieder bei Christines Vorwurf wären, ich würde die Leute „verarschen“ – auch das ein Wort aus ihrem Mund –, dies auch eigentlich nicht gut finden, aber des Geldes wegen damit weitermachen. Mit anderen Worten: ich würde mich verkaufen, weswegen sie sich auch dazu berechtigt fühlte, von meiner Arbeit als einem „Hurenjob“ zu sprechen. Dass auch sie jahrelang von meinem Hurenlohn lebte, weil sie mit ihren tatsächlich in keinerlei Hinsicht zu beanstandenden Literaturübersetzungen einfach nicht genug verdiente, um ohne Magenknurren die Zeit zwischen einer Honorarzahlung und der nächsten zu überstehen – von anderen Annehmlichkeiten wie Auto, gut gestalteten Möbeln oder Urlaubsreisen ganz zu schweigen – schien sie dagegen kaum anzufechten. Als sie mich eines Tages in Zusammenhang mit meiner Arbeit als Werbetexter mit dem guten alten Satz konfrontierte, es gebe kein richtiges Leben im falschen, gab ich ihr genau dies zu bedenken: dass, wer sein eigenes Leben auf dasjenige von jemandem stütze, der seines „falsch“ – was auch immer das bedeuten möge – führe oder organisiere oder gestalte, dass dieser Mensch auch selbst kaum als jemand bezeichnet werden könne, der seinerseits ein „richtiges“ Leben führe, ganz gleich, wie gut und schön und tadellos – natürlich alles Begriffe, die hinterfragt und definiert werden müssten – dieses Leben auch aussehe oder letztlich sogar tatsächlich „sei“. Erstens. Und zweitens – denn schließlich lag es nicht in meiner Absicht, sie von meiner Seite oder gar aus meinem Leben zu vertreiben, und schon von daher musste es diesen zweiten Punkt geben, aber natürlich auch und zuallererst aus Gründen der Logik – zweitens also könne man den Satz auch noch ein bisschen erweitern und sagen, es gebe kein richtiges Leben in der falschen Gesellschaft , und dann werde es wirklich problematisch. Denn einerseits müsse man wohl nicht lange erläutern, dass unsere Gesellschaft der Konsumgeilheit – „für die du mitverantwortlich bist!“, warf Christine sofort ein, was ich in diesem Moment keine große Lust hatte zu bestätigen, weshalb ich einfach mit meiner Aufzählung fortfuhr –, der Kinderpornos, der Berge von Verkehrstoten und der gnadenlosen Verdummung durch die Medien nicht die „richtige“ sein könne. Doch andererseits: Solle man deswegen weggehen und wenn ja, wohin bitte? Wo hielten wir es denn überhaupt aus, so, wie wir zu leben gewohnt seien? In welcher ganz anderen Umgebung – und ganz anders müsse sie schon sein, wenn sie nicht ganz so falsch sein solle wie diejenige, in der wir lebten – in welcher ganz anders gearteten und organisierten Umgebung würden wir denn nicht sofort zugrunde gehen oder jedenfalls binnen kürzester Zeit? Und „nicht ganz so falsch“ sei ja noch nicht einmal ausreichend – „richtig“ müsse sie sein! Wo gebe es sie denn, diese Gesellschaft? Wo? Wir einigten uns schließlich auf das, was wir ohnehin schon gewusst hatten, nämlich dass ein solches Gemeinwesen nicht existiere und man daher genauso gut hier bleiben könne, um sich hier schuldig zu machen. Wir einigten uns weiterhin darauf, dass alles relativ sei – was uns ebenfalls schon bekannt gewesen war -, dass man also auch nur ein relativ richtiges Leben führen könne, was Christine auch tue, dass ich hingegen ein relativ falsches Leben führte, aber immerhin kein ganz falsches, da ich ihr ja mit meinem relativ falschen Leben ihr relativ richtiges ermöglichte. „Du bist also kein ganz großes Schwein, sondern nur ein mittleres“, schloss Christine unsere Diskussion ab, und da ich spürte, dass mehr für mich an diesem Tag nicht drin war, ließ ich den Satz so stehen. Erschöpft von den Auseinandersetzungen begaben wir uns ins Schlafzimmer, wo wir uns jedoch schon bald wieder auf der neuen Umgebung angemessene Art gegenseitig provozierten, gemeinsam außer Atem kamen und endlich ermattet und befriedigt den Tag beschlossen.
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