»Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen …«
Bérénice hetzte nun schon die zweite Stunde durch den Dschungel von Samboll und sie war völlig durchnässt, sowohl von außen durch den andauernden Regen als auch von innen durch Schweiß. Doch sie nahm es mit stoischer Ruhe hin. Ihr blieb auch nichts weiter übrig, wenn sie nur die geringste Chance zu überleben nutzen wollte. Und sie wollte. Nein, sie musste. Ihre sehnig-athletische Figur verriet ihre haitianische Abstammung, ihre dunkle, fast schwarze Haut kontrastierte extrem mit ihrer knallroten Gefangenenkluft. Wenn man die recht strapazierten Reste des Anzuges noch als Kleidung bezeichnen wollte. Ihre schwarzen Haare – zu einem Zopf geflochten – hüpften im regelmäßigen Takt ihres Dauerlaufes auf dem Rücken, auf dem sich ein kleines Bündel und eine einfach gefertigte Schwertscheide befanden.
Sie war eine schöne Frau, doch im Augenblick würde ein Beobachter – und sie hoffte, dass niemand sie momentan beobachtete – jetzt nur einen schwarz-roten Schatten durch den dämmrigen Dschungel huschen sehen. Sie war hochgewachsen und ihr Gesicht von einer klassischen Anmut, welche durch den symmetrischen Aufbau von dunklen Augen, vollen Lippen und hohen Wangen nur noch unterstrichen wurde. Sie konnte damit jedoch ein ziemlich großes Repertoire an Grimassen schneiden, was ihr in geselliger Runde weitere glühende Anhänger eintrug.
Doch jetzt war fast jede freie Stelle ihres Körpers von Schnitten, Kratzern und kleinen Wunden übersät, welche ihr Dornen, peitschende Äste, Lianen und anderes Geflecht dieses verfilzten Waldes eingebracht hatten. Sie blutete aus etlichen der kleinen Verletzungen und zusammen mit ihrem Schweiß lief sie geruchsintensiv, wie ein olfaktorisches Leuchtsignal durch den Dschungel. Sie war sich dessen bewusst, konnte aber im Augenblick nichts daran ändern. Sie hoffte, dass der Regen intensiv genug war, um einerseits ihren intelligenten als auch weniger intelligenten Verfolgern die Witterung zu erschweren.
Nach vierzehn Wochen grausamster Gefangenschaft bei den Sambolli hatte sie beschlossen, eher zu sterben, als auch nur noch eine Woche weiter in dieser Hölle gefangen zu bleiben. Und die Chance zu sterben, lag hier im Dschungel nur geringfügig niedriger als im Gefangenenlager. Nun, sie zog eine Chance von 5 % zu Überleben einer von 100 % zu Sterben eindeutig vor. Ihre Mitgefangenen, was konkret das halbe Bataillon der 45. Spacetrooper bedeutete, hatten sich während ihrer Gefangenschaft von anfangs knapp 500 gefangenen Troopern auf 312 reduziert. Ein Trooper-Bataillon zählte normalerweise 1.000 Personen.
Jetzt 311, dachte sie grimmig und wich zum hundertsten Male einer Faustfliege aus, die nach wenigen Metern Verfolgungsflug aufgab und sich ein anderes Opfer suchte, was nicht so groß und so schnell war wie Bérénice.
Die schlanke Frau fühlte, dass sie vielleicht noch eine halbe, höchstens aber eine Stunde das Tempo würde halten können. Danach würde sie sich noch mindestens eine weitere Stunde mit dem Körperschutz beschäftigen müssen, bevor sie sich den dringend benötigten Schlaf gönnen konnte. Aber wie zum Trotz steigerte sie für einige Minuten ihr Tempo, wie um es sich selbst zu beweisen, was sie doch für ein harter Hund war. Als sie das zweite Mal beinahe in eine Rasierer-Falle getreten wäre, bremste sie ernüchtert und frustriert ab und fiel in ihr altes Lauftempo zurück.
Bérénice – von allen Freunden aufgrund ihrer unumstrittenen Schönheit nur Nice und von ihren Nichtfreunden respektvoll Ice genannt – widmete ihrer Umgebung wieder mehr bewusste Aufmerksamkeit. Der samboll´sche Dschungel stellte jeden irdischen Dschungel um ein Vielfaches in den Schatten. Das betraf zuallererst seine Größe, denn der Planet Samboll bestand fast ausschließlich aus Dschungel. Der Rest aus unzähligen Wasserflächen, welche die Bezeichnung Meer nicht im Ansatz verdienten, sondern von großen Seen, Abertausenden kleineren und kleinsten Wasseransammlungen, Strömen, Flüssen und Rinnsalen gebildet wurden. Da sich die höchsten Erhebungen noch unterhalb der Waldgrenze befanden, setzte sich die grüne Landschaft auch dort ungehindert fort. Einzig die Dichte des Pflanzengewirrs lichtete sich oben ein wenig und erlaubte seltene Ausblicke auf das immer gleiche Bild: Grün, soweit das Auge reichte.
Die Richtung, in die Bérénice rannte, war ihr egal. Zumindest für den Moment. Nur so weit weg vom Lager, wie sie nur konnte. Es hatte keine Mauern, Zäune oder irgendwelche anderen Hindernisse gegeben. Die Sambolli kannten ihren Planeten und selbstverständlich den Dschungel – und alles, was darin kreuchte und fleuchte – in- und auswendig. Aber sie kannten die Menschen noch nicht gut genug. Und schon gar nicht eine Frau wie Bérénice Savoy.
Die Sambolli waren entfernt humanoid und zum Erstaunen der Menschen empfanden sie die menschliche Spezies sogar als hübsch. Als mörderischen Todfeind, aber rein optisch als hübsch. Vielleicht trug das dazu bei, dass sie Bérénice nicht zutrauten, eine Flucht zu wagen. Schließlich waren muskulösere, stärkere Männer, in deren Augen echte Gegner, an der Flucht gescheitert. Die Skelette, welche der Dschungel übriggelassen hatte, zierten zu Dutzenden die Wände der Aufseher-Unterkünfte. Der Kommandant machte sich jeden Morgen die Freude, der schrumpfenden Gefangenenschar für eine geschlagene Stunde in brütender Hitze in stiller Andacht die Skelette beim Appell im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen zu führen. Ein besonderes Vergnügen bereitete ihm die Neuplatzierung eines weiteren gescheiterten Fluchtversuches während des Appells.
Bérénice lief trotz der ultrafeuchten Hitze ein kalter Schauer über den Rücken. Sie warf einen kurzen Blick hinter sich, mehr um sich selbst davon zu überzeugen, dass der Schauer nicht auf einen Verfolger gründete, sondern auf das tief empfundene Grauen, welches der Anblick der Skelette immer noch in ihr erzeugte. Sie fiel in einen langsameren Trott, beobachtete noch genauer den dichten Wald.
Sie suchte bereits nach einem Essigbusch für das Nachtlager. Erfahrungsgemäß fanden sich diese hochinteressanten Pflanzen am oberen Hang eines Hügels oder kleinen Berges, in mehr oder weniger deutlichem Abstand zu allen anderen Gewächsen des Dschungels. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis die Spacetrooper die Vorzüge dieses Busches erkannten und zu schätzen gelernt hatten. Ein menschlicher Körper, möglichst direkt auf der Haut und komplett mit den flexiblen Blättern des Essigbusches bedeckt, war so in etwa das abscheulichste, was die restliche samboll´sche Flora – und Fauna – kannte. Was bedeutete, dass man recht ruhig in einer Umgebung sich zur Nachtruhe begeben konnte, die nur so von mörderischem Zeug wimmelte. Und man ertrug gerne den penetranten Geruch, der an edlen Weinessig erinnerte.
Nun ja, auch in der Hölle soll es einen Pausenraum geben, grinste Bérénice vor sich hin, als das Gelände anstieg und eine Viertelstunde später die gelbgrün gefleckten Blätter eines Essigbusches auftauchten. Wie erwartet stand der Busch relativ alleine. Er war nicht besonders groß: etwa 2,5 m hoch, dafür aber fast 5 m im Durchmesser. Leider eignete er sich nicht für einen permanenten Schutz, da seine abgepflückten Blätter nach circa einem Tag trotz des vorherrschenden Saunaklimas völlig aushärteten. Dieser Prozess stellte noch eines der einfacheren ungelösten Geheimnisse des Essigbusches dar. Die papierdünnen Blätter wurden dabei steinhart und an den Kanten rasiermesserscharf, was ein längeres Tragen am Körper unmöglich machte. Bérénice indes war es egal, dass sie jede Nacht neue Blätter würde pflücken müssen. Hauptsache, sie konnte sich niederlegen und wieder aufwachen, ohne gefressen worden zu sein.
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