Es war ein langer Brief mit drei beschriebenen Seiten. Am Schriftbild, dem eine gewisse Nervosität abzulesen war, weil manche Zeilen schief hingen, meist am Ende leicht kurvig abfielen, einige Worte durchgestrichen, durch andere überschrieben waren, und der Schriftzug im Allgemeinen nicht mehr die flüssige Eleganz und Schönheit hatte, wie er sich in früheren Briefen auszeichnete, sondern in ihm sich etwas Krakelhaftes festgesetzt, eingenistet hatte, erkannte der Sohn nicht nur das zunehmende Alter des Vaters, der drei Jahre vor seiner Pension stand, sondern vielmehr eine innere Unruhe, die ihm Sorgen machte. Kannte er doch seinen Vater als einen willensstarken Mann von hoher Disziplin und großem Fleiß, der fest im reformierten Glauben stand und sich von Dingen, selbst wenn sie unvorhergesehen hereinbrachen, nicht so schnell erschüttern ließ. Dann setzte Eckhard Hieronymus zum Lesen des väterlichen Briefes an, schaute zuvor noch einmal ans Ende auf der dritten Seiten, wo der Brief mit "In Liebe und Gott befohlen! Dein sich sorgender Vater" abschloss. Dann las er von Anfang an und ließ sich beim Lesen viel Zeit, suchte und untersuchte den Inhalt nicht nur eines jeden Satzes, sondern eines jeden Wortes, achtete, wo der Vater Punkt und Komma setzte und fuhr mit dem Wunsch, sich an die Kindheit möglichst genau zurück zu erinnern, und mit der Anhänglichkeit eines Kindes dem Schriftzug buchstäblich nach.
Der Brief sei seiner Bedeutung wegen, die er für den Sohn Eckhard Hieronymus Dorfbunner zeitlebens behielt, hier wiedergegeben:
Breslau, den 3. November 1918
Mein lieber Sohn!
Deine Mutter und ich hoffen, dass es Dir und Luise Agnes gut geht. Unsere Gedanken sind täglich bei Euch. Auch nachts, wenn wir nicht schlafen können, sprechen wir immer wieder von Euch, wie es Euch wohl gehen mag, wie Du Dich in Deinem Beruf entwickelst, ob Du stark genug bist, den Herausforderungen kraftvoll entgegenzutreten, ob Du das Vertrauen der Menschen Deiner Gemeinde gewinnst, was Du heraushören kannst aus dem, was sie Dir sagen, und wie sie zu Dir sprechen. Wir sprechen von Luise Agnes und der Schwangerschaft, die sie hoffentlich gut verträgt. Es erfüllt uns mit Dankbarkeit und Glück, dass Ihr auf gutem Wege seid, eine Familie zu gründen; wenn wir uns auch Sorgen um die Zukunft machen, in die Ihr mit dem Kind hineingehen werdet.
Wie Ihr wisst, gehen wir in eine Zukunft hinein, die voller Ungewissheiten ist, die für viele Menschen Elend, Trauer und bittere Armut bringen wird. Der Vaterländische Krieg ist so gut wie verloren; und verloren sind so viele unserer besten Söhne. Deutsche Männer, die mit Elan und voller Idealismus an der Front gekämpft haben, werden nicht mehr zurückkehren; sie sind auf den Schlachtfeldern für das Vaterland verblutet, sie haben das grösste Opfer gebracht. Wer weiß, wer von den Soldaten zurückkommen wird; wer weiß, wie verkrüppelt sie heim kommen werden, dass sich die Väter erschrecken und die Mütter in Ohnmacht fallen werden. Diese Ungewissheit gilt ebenso für Deine Brüder Friedrich Joachim und Hans Matthias, von denen uns die letzten Feldpostbriefe vor gut einem Jahr erreichten. Ob sie noch leben oder auch ihr Leben dahin geopfert haben, wir wissen es nicht. Die Mutter trauert bereits um ihre Söhne, sie hat den Appetit verloren und wacht nachts mit schrecklichen Träumen auf. Ich warte ab und versuche mich zu fassen, wenn die Söhne vor der Tür stehen werden oder der Postbote mit der Nachricht vom Schlimmsten. Du kannst Dir vorstellen, wie das Warten an unseren Kräften zehrt. Seit Wochen leide ich daran, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. So habe ich kürzlich im Unterricht Geschichtsdaten durcheinandergeworfen, wo ich den ersten punischen Krieg mit dem Kampf um Troja verwechselte. Ein Schüler hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Das hatte keinen guten Eindruck hinterlassen. Auch in der Geographie bin ich mir vor Verwechselungen nicht mehr sicher. Soweit ist es also mit mir schon gekommen! Da überkommt mich das Gefühl des Schämenmüssens, wo ich doch ein guter Lehrer mit fundierten Kenntnissen war. Die Sorgen haben unsere Haare grau, Mutters Kleider und meine Anzüge weit gemacht. Nein, es steht nicht gut mit unserer Zukunft! Die Menschen bangen und befürchten das Schlimmste. Die Armut grassiert schon jetzt wie eine unheilbare Krankheit; bald wird das Elend unbeschreiblich sein, wenn erst die Trauer mit dem Wissen um die verlorenen und verstümmelten Männer, Väter und Söhne dazukommt.
Wie Du sicher in der Zeitung gelesen hast, steht das deutsche Staatswesen kurz vor dem Zerfall. In Berlin ist die Hölle los. Im Reichstag beschimpfen sich die Abgeordneten. Da ruft der Konservative von Heydebrand in den Saal, dass die Deutschen von der Generalität belogen und betrogen wurden, von Ludendorffs Siegeszuversicht nichts weiter als eine böse Täuschung war; der Sozialdemokrat Ebert erlitt einen Schwächeanfall, der Nationalliberale Stresemann rang mit seiner Stimme und wurde niedergebrüllt. Die Ordnung ist aus den Fugen geraten! Wir haben das Gold für das Eisen gegeben, und wir gaben es in der besten Absicht. Das Gold ist weg, und mit ihm so viele unserer Söhne. Das Ergebnis des Krieges ist die blanke Katastrophe. Es ist kaum zu fassen. Ich muss Dir sagen, dass die Heeresleitung [ 'die Heeresleitung' durchgestrichen und mit 'der Kaiser' überschrieben ] das deutsche Volk verraten hat. Es ist schon unglaublich, was die Führung tat und sich nun zum Ergebnis in Schweigen hüllt. Die Führung lässt das Volk im Stich, lässt es verhungern, im Meer des Elends versinken und ertrinken; und das, wenn das Volk die Führung am nötigsten braucht. Nein, um unsere Zukunft ist es nicht gut bestellt! Es ist an der Zeit, dass wir uns auf die Knie begeben, uns tief vor unserem Schöpfer verneigen und um seine Vergebung und seinen Schutz bitten. Wir müssen das Beten lernen, dass uns nicht auch noch der Herr verstößt.
Grüße bitte Deine liebe Frau und Gott befohlen! Dein sich sorgender Vater
Eckhard Hieronymus las den Brief dreimal und ging dann mit ihm in die Küche, um ihn seiner jungen Frau zu zeigen, die mit vorgebundener Schürze und leichter Wölbung ihres Unterbauches das kochende Kartoffelwasser in einen Eimer abschüttete. Mit schnellem Blick begriff sie die Betroffenheit ihres Mannes und damit den Inhalt des Briefes in seiner Zusammenfassung. Doch der zweite Blick in sein Gesicht, nachdem sie den Topf mit den Kartoffeln auf den Herd zurückgesetzt hatte, sagte ihr, dass sie die Spannung mildern, auflösen, dass sie sprechen solle. "Wie geht es den Eltern? Sind sie gesund? Was schreiben sie; was wissen sie von deinen Brüdern zu berichten?" Es waren viele und doch wenige Fragen, die Luise Agnes in ihrem Versuch stellte, Entspannung in das Gesicht von Eckhard Hieronymus zu bringen. "Lies ihn selbst, er ist sehr reichhaltig; Vater hatte sich viele Gedanken gemacht!" Er hielt sich mit seinem Kommentar zurück, weil er wollte, dass seine Frau unbeeinflusst den Brief lesen sollte. Auch sagte er nichts über die schräg nach unten gehenden Zeilenenden, über die durchgestrichenen und überschriebenen Worte sowie über das Krakelhafte, das sich in seinen Schriftzug eingeschlichen, ihm die Eleganz und Schönheit genommen hatte. "Lass mich das Mittagessen bereiten, es ist schon spät; ich werde den Brief nach dem Essen lesen", sagte Luise Agnes. Eckhard Hieronymus verstand ihre Bitte und legte den Brief an ihren Platz auf den Esstisch, der mit den zwei großen flachen Tellern und dem zugehörigen Besteck sowie den eingerollten Servietten in ihren Ringen bereits gedeckt war.
Er ging in sein Arbeitszimmer zurück, um den zweiten Brief zu lesen, den Konsistorialrat Braunfelder geschickt hatte. Das war ein förmlich gehaltener, auf der Schreibmaschine geschriebener Brief, auf dem sich oben links der Absender in fett gedruckten Buchstaben des größeren Formats, wie folgt, zu erkennen gab: Lic. August Braunfelder (1. Zeile), Konsistorialrat (2. Zeile), wobei 'Lic' für Lizentiat stand, dem Abschluss des Studiums mit dem theologischen Hochschulgrad. Der Adressat war dagegen in mageren Druckbuchstaben des kleineren Formats zu lesen. Wie schon gesagt, es war ein förmliches Schreiben, das in fünf Zeilen mitteilte, dass Herr Eckhard Hieronymus Dorfbrunner die Stelle als zweiter Pfarrer an der Elisabethkirche der Großgemeinde Dubrau zunächst auf Probe erhalten habe. Die Probezeit erstrecke sich auf ein Jahr. Das Monatsgehalt im Probejahr entspreche etwa der Hälfte des normalen Pfarrgehalts. Zum Gehalt komme noch die Heizungszulage, die ungekürzt ausgezahlt wird. Im letzten Satz wünschte der Konsistorialrat dem Neuling alles Gute und endete sein Schreiben mit "Gott befohlen, Ihr A. Braunfelder, D.theol., Konsistorialrat". Die Unterschrift stand an Grösse dem Briefkopf vom größeren Format nicht nach. Handschriftlich hatte der Konsistorialrat unter "P.s.:" noch angemerkt, dass er der Predigt am kommenden Sonntag über den 1. Korintherbrief, 8. Kapitel, mit großem Interesse entgegensehe.
Читать дальше