wahr? So will es doch die Tradition.«
Kormund fluchte unterdrückt. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Ihm
als altem Krieger und erfahrenem Pferdelord hätte dies sofort auffallen
müssen. Wo waren die Waffen des Toten? Kein Pferdelord ging ohne Waffen
durchs Leben, und kein Pferdelord ging ohne Waffen zu den Goldenen
Wolken. Wo waren die Waffen?
Kormund richtete sich auf und erhob seine Stimme. »Seine Waffen fehlen!
Lukan, wie weit kann einem Mann im Kampf ein Schwert aus der Hand
geschleudert werden?«
»Vier, vielleicht auch fünf Längen«, kam Lukans Antwort.
»Dann sucht auf zehn Längen um die Fundstelle herum«, rief Kormund.
»Seine Waffen müssen zu finden sein. Zumindest eine Waffe.«
Denn wenigstens eine Waffe mussten sie dem Toten in die Hand geben,
damit er als Pferdelord ehrenvoll zwischen den Goldenen Wolken
voranstürmen konnte. Also begannen die Männer nach dem Schwert, der
Lanze oder dem Bogen des Mannes zu suchen. Doch sie fanden nicht einmal
seinen Dolch. Nach einer Weile erfolglosen Suchens rief Kormund die
Männer zu sich zurück.
»Kein Raubtier entwendet Waffen«, knurrte Lukan grimmig. »Also muss
jemand vorbeigekommen sein und sie dem Toten abgenommen haben.«
»Und wer es auch war, dieser Jemand war kein Pferdelord, denn kein
Pferdelord würde einem Toten jemals die Waffe nehmen«, bestätigte
Kormund mit finsterem Gesicht. »Ein Dieb ist in der Hochmark. Vielleicht
ein Geächteter oder Plünderer aus den fernen Ländern.«
»Oder Orks«, wandte Parem ein.
Lukan musterte den jungen Reiter auflachend. »Orks. Seit einem
Menschenalter sind keine Orks mehr in die Marken des Königs eingedrungen.
Wer von euch, außer Kormund und mir, hat denn überhaupt schon einmal
einen Ork zu Gesicht bekommen?« Lukan spuckte aus. »Orks. Vor vielen
Jahren haben wir sie niedergeritten, und wir taten es ruhmreich. Nie wieder
werden Orks das Land der Pferdelords beschmutzen. Sie gehören ins Land
der Sage.«
»Wie die Elfen«, knurrte ein anderer Reiter.
»Das ist etwas anderes«, erwiderte Lukan. »Elfen gibt es noch.« Er zuckte
die Achseln. »Sagt man jedenfalls«, schränkte er ein. »Irgendwo in den
westlichen Landen und im Norden. Der Pferdefürst selbst hat einst einige von
ihnen am Hofe des Pferdekönigs gesehen. Nein, Elfen gibt es noch. Aber
Orks? Unsere Klingen haben sie in die Flucht geschlagen, und die Hufe
unserer Pferde haben sie in den Boden gestampft.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Kormund leise. »Dennoch mag es noch welche
geben. Aber sie würden es nicht wagen, jemals wieder unser Land zu
betreten. Doch es gibt mehr als genug Söldner, Plünderer und Barbaren, die
auf dem Raubzug sein könnten. Hinter dem Tod des Mannes vom Hofe des
Königs scheint mir mehr zu stecken, als ich zunächst gedacht habe.« Der
Scharführer reckte sich nachdenklich. »Auch wenn es nur eine kleine
Handvoll Eindringlinge sein mag, so bilden sie doch für die abgelegenen
Gehöfte eine Gefahr. Der Pferdefürst muss davon erfahren.«
»Also kehren wir nach Eternas zurück«, stellte Lukan fest.
Kormund nickte. »Das tun wir.« Er blickte auf das unvollendete Grab.
»Zunächst erweisen wir jedoch dem Toten unsere Ehre.«
Sie traten an das offene Grab heran und blickten sich dann zögernd an. Sie
wussten, was zu tun war, doch kein Pferdelord gab gerne seine Waffe aus der
Hand. Schließlich stieß Kormund ein leises Knurren aus. Er konnte von
seinen Männern nicht erwarten, was er selbst nicht zu vollbringen bereit war.
Mit einem leisen Zischen fuhr die Klinge seines Schwertes aus der Scheide,
und er bückte sich, um die Hand des Toten um den Griff der Waffe drücken
zu können.
Lukan legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Wohl getan, mein
alter Freund.«
Kormund seufzte leise. »Es gibt noch viele andere gute Klingen. Die
Hochmark ist reich an Erzen, und dieser Mann muss Ehre haben.«
Sie sprachen die rituellen Worte, zu denen sie ihre Toten in die Goldenen
Wolken entließen, und schichteten im Anschluss daran sofort mehrere Steine
über die Leiche, damit kein Raubtier sie schänden konnte. Danach standen sie
in Linie an dem einsamen Grab und schlugen ihre Waffen im Takt eines
galoppierenden Pferdes an die Rundschilde. So begleitete der symbolische
Hufschlag den Ritt des Toten zu den Goldenen Wolken.
Kormund zog seine Lanze mit dem flatternden dreieckigen Wimpel aus
dem Boden, trat an die linke Seite seines Pferdes und saß auf. Routiniert
schob er den rechten Schenkel hinter den grünen Rundschild und stellte die
Lanze in den eisernen Köcher am Steigbügel. Er wandte sich den anderen
Männern zu.
»Nach Eternas.«
Kormund ritt an, und die anderen folgten dem flatternden Wimpel. Hinter
ihnen blieb das einsame Grab zurück, das den Scharführer zunehmend
beschäftigte. Es ging etwas vor sich in der Hochmark, und dieses Etwas gefiel
ihm nicht.
Einst hatte Balwin einen großen Baum gefunden. Dieser große Baum hatte
sein Leben verloren, als Balwin den Tragebalken für die Decke seines Hauses
aus ihm gefertigt hatte, und so war aus dem großen Baum ein großes Haus
geworden. Es gab nicht viele große Bäume in der Hochmark, und in der Regel
schon gar keine, die es erlaubten, einen dicken Balken von fünf Längen aus
ihnen herauszuschälen. Die Hochmark war reich an Wolle und Erzen, sogar an üppigen Weiden, doch nicht an Bäumen. Natürlich gab es Bäume, vor
allem an der Südgrenze der Hochmark, doch diese waren meist klein und
wirkten leicht verkrüppelt, denn sie hatten um ihr Leben zu kämpfen.
Nedeam war froh, dass sein Vater ein großes Haus gebaut hatte, denn so
besaß der Zwölfjährige eine eigene Kammer. Wahrscheinlich waren auch
seine Eltern, Balwin und Meowyn, nicht unglücklich über diesen Umstand, da
die eigene Kammer des Sohnes ihnen eine gewisse Bewegungsfreiheit ließ.
Gelegentlich konnte Nedeam dies dem Knarren der Bettstatt seiner Eltern
entnehmen. Er war durchaus schon in einem Alter, in dem er wusste, warum
es Männer und Frauen zueinander zog, und gelegentlich zog es seine Eltern
ganz besonders zueinander hin. Dann stöhnten und seufzten seine Eltern recht
stark, weshalb Nedeam davon ausging, dass beide Schmerzen leiden mussten.
Erblickte er sie dann aber am nächsten Morgen, schienen sie beide
gleichermaßen ein eigenartiges Lächeln im Gesicht zu tragen, und Nedeam
fragte sich, was das wohl für Schmerzen sein mussten, die auch Freude
bereiteten und glücklich machten. Er selbst hatte sich vor einem Jahr einmal
mit dem Hammer auf die Hand geschlagen und dabei trotz der Schmerzen
keinerlei Freude empfunden.
Nedeam hatte nicht gut geschlafen. Nicht nur wegen des Knarrens, sondern
weil er aufgeregt war, denn heute sollte ein besonderer Tag für ihn werden,
das hatte ihm sein Vater angekündigt. So war Nedeam schon in aller Frühe
aufgestanden und hatte sich an den Tisch gesetzt, der im Wohnraum stand.
Der Tisch war alt, und seine massive Platte mit den zahllosen Kratzern
bewies, dass er der Familie seit Langem diente. Eine Scharte war besonders
tief und lang und rührte daher, dass sein Vater einmal mit seinem Schwert in
den Tisch gehauen hatte. Das Schwert war ebenso massiv wie sein Träger
Balwin und Balwin zudem mit einem außergewöhnlichen Temperament
gesegnet. Aber der Tisch hatte gehalten, so wie auch Nedeams Mutter
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