dem Gegenstand zu erheben, und nun wussten sie, dass hier wohl ein
menschliches Lebewesen den Tod gefunden haben musste, denn der Klumpen
vor ihnen war zu klein für ein Pferd und zu groß für ein Wolltier, aber genau
richtig für einen Menschen.
Die Gruppe hielt neben dem Toten an, und Kormund und sein Freund und
Stellvertreter Lukan schwangen sich aus den Sätteln. Sie stießen die
Lanzenenden in den Boden und gingen nebeneinander zu den menschlichen
Überresten hinüber.
»Einer der Unseren«, brummte Lukan und rümpfte wegen des Gestanks die
Nase, als er den Toten herumzog. Jetzt wurden die Konturen der Gestalt
deutlicher, ebenso wie die Verletzungen, die der Mann erlitten hatte. Auch
der vom Wind herangewehte feine Staub löste sich teilweise und entblößte
nun die Kleidung und die Wunden des Toten. Lukan zupfte an dem grünen
Umhang der Leiche. »Ein Pferdelord.«
Kormund nickte. »Einer der Unseren. Aber nicht aus der Hochmark. Habt
Ihr den Saum gesehen?«
»Natürlich.« Der Umhang war mit einem goldenen Saum eingefasst, was
ihnen zeigte, dass es sich bei dem Reiter, der vor ihnen lag, um einen Mann
aus der Mark des Königs gehandelt haben musste. Sein Gesicht war
unkenntlich. »Ich denke, er dürfte fünf oder sechs Tage hier liegen. Jedenfalls
noch keinen Zehntag.« Er sah sich um. »Kein Helm. Er hat seinen Helm
verloren. Seltsam.«
Der Helm hätte ihnen verraten können, ob der Mann direkt vom Hofe des
Königs gekommen war, denn alle Schwertmänner der königlichen Wache
trugen keine blauen, sondern helle Rosshaarschweife an ihren Helmkämmen.
Die Augen und größere Gewebeteile des Toten waren bereits von Aasfressern
und Insekten weggefressen worden. Lukan knurrte missmutig und starrte in
den halb offenen Mund der Leiche. »Die Zähne sind noch in Ordnung. Es
muss ein junger Mann gewesen sein. Was, beim Dunklen Turm, hat ein
Pferdelord des Königs hier bei uns verloren?«
»Ja, das würde mich auch interessieren.« Kormund bückte sich neben
seinem Freund und begann die Leiche zu untersuchen. »Aber zunächst
interessiert mich, was ihn getötet hat. Seht Ihr diese parallelen Risse in seiner
Kleidung? Sieht ganz nach den Krallen eines Pelzbeißers aus.«
Lukan wiegte den Kopf. »Ein Pelzbeißer? Hier bei uns? Ich weiß nicht, die
Mark liegt ziemlich hoch im Gebirge. Ein Pelzbeißer findet hier nicht viel,
was er fressen kann, und würde wohl ziemlich hungrig bleiben. Oder aber in
seinem Hunger eine der Herden anfallen und danach ein rasches Ende finden,
denn die Herdenwächter sind nicht zimperlich.«
»Vielleicht ein alter Einzelgänger, der aus den tiefen Marken zu uns
hochkam und hungrig genug war, um einen Mann anzufallen.«
Lukan grinste. »Stellt den jungen Parem auf die Probe und nicht mich,
mein alter Freund. Ihr seht selbst, dass hier nur kleine Aasfresser ihr Werk
verrichtet haben. Ein hungriger Pelzbeißer hätte sich einen ordentlichen
Happen genommen.«
Lukan sah seinen stämmigen Freund kopfschüttelnd an und zupfte dann an
den Überresten der Kleidung des Toten. Der faulige Gestank verstärkte sich
noch, als er dessen Bekleidung schließlich mit dem Dolch zerschnitt und
auseinanderzog. Unter Harnisch und Wams war der Körper bereits
aufgedunsen und sichtlich in Verwesung übergegangen. Aber die vielen tiefen
Schlitze im Leib waren dennoch gut zu erkennen. Es gab jeweils vier tiefe
Furchen, die bis zu den Organen vorgedrungen waren.
Lukan hielt eine Hand mit gespreizten Fingern über die Wunden und
nickte dann. »Sieht wirklich nach einem Pelzbeißer aus. Ein sehr großes
Exemplar. Jedenfalls sehe ich nichts, was auf Schwert, Pfeil oder Lanze
hindeutet. Nein, ich denke, es muss wohl doch ein Raubtier gewesen sein.«
»Jedenfalls werden wir nun wohl schwerlich erfahren, was der arme Kerl
bei uns wollte.« Kormund erhob sich und trat mit seinem Freund zur Seite,
um dem Gestank etwas auszuweichen. »Ein Pferdelord des Königs. Seit über
dreißig Jahren ist kein Mann des Königs mehr in der Hochmark gewesen.«
»Mit Sicherheit kam er nicht ohne Grund. Doch darüber mag sich der
Pferdefürst den Kopf zerbrechen.« Lukan stieß seinen Dolch einige Male in
den Boden, um ihn zu säubern, und steckte ihn danach wieder in die Scheide
an seinem Gürtel zurück. »Was meint Ihr, Kormund, mein Freund, soll die
Schar weiter an der Grenze entlangreiten, oder sollen wir vorzeitig nach
Eternas zurückkehren?«
»Wir suchen nach Raubzeug und Eindringlingen, Lukan. In der letzten Zeit
sind zu viele Wolltiere gerissen worden. Die Menschen in den Gehöften
und Weilern sind unruhig. Vielleicht ist es dieser Pelzbeißer, der all das
verursacht hat, und wir sind ihm nun endlich auf der Spur.«
»Fünf oder sechs Tage. Eine recht kalte Spur, alter Freund.«
Kormund zuckte die Achseln. Er sah die anderen Reiter an. »Wir sehen
uns erst einmal hier um, ob wir in der Nähe noch andere Spuren finden.
Achtet auf den Krallenabdruck eines Pelzbeißers.« Er blickte zu der Leiche
hinüber. »Und begrabt den Mann in Ehren.«
Natürlich war es Parem, der noch unerfahrene Pferdelord, dem die
undankbare Aufgabe zufiel, ein Grab vorzubereiten. Er saß mit den anderen
Männern ab und zog seinen Dolch, um am Rand des Pfades eine flache Grube
auszuheben, die man danach mit Steinen bedecken würde. Der Rest der Schar
schwärmte aus und suchte nach Spuren. Aber der Boden war hart und steinig,
sodass es nicht leicht war, etwas zu finden. Doch das waren die Männer der
Hochmark gewohnt, und sie brauchten nicht viel, um Hinweise zu finden. Ein
Stein, der umgedreht worden war und dessen mit Moos bewachsene Seite
nach oben zeigte, ein paar helle Kratzer auf den Felsen, vielleicht sogar ein
Abdruck an den wenigen weichen Stellen im Boden … Wenn es etwas gab,
würden es die erfahrenen Männer auch finden. Es war ihre Aufgabe, denn die
Wolltiere stellten den Reichtum der Hochmark dar. Die Wolltiere und das Erz, das man hier reichlich fand. Aber Erz konnte man nicht essen, und der Verlust
von Wolltieren bedeutete eine große Gefahr. Nein, die Männer nahmen ihre
Aufgabe ernst.
Der schlaksige junge Parem, dessen rotblonde Haare unter dem Rand
seines Helmes herausschauten, hatte mittlerweile eine flache Grube fertig
ausgehoben und blickte angewidert, als ihm nun auch noch die unangenehme
Aufgabe zufiel, die Leiche dorthin zu schaffen. Kormund sah zu ihm hinüber
und verzog das Gesicht. Doch er konnte dem jungen Mann keinen ernsthaften
Vorwurf machen. Also ging er zu Parem hinüber, um ihm zu helfen.
»Ich weiß, es ist keine angenehme Pflicht«, knurrte er und packte mit an.
»Aber ein Pferdelord verdient auch im Tode eine ehrenvolle Behandlung.
Keiner der Unseren bleibt für das Raubzeug liegen. Atme stärker durch den
Mund ein, das macht es etwas leichter.«
Sie legten die Leiche in die flache Grube, und Kormund war erleichtert, als
ihnen dies auf Anhieb gelang. Er hatte schon anderes erlebt. Damals, als es
noch Kämpfe und große Schlachten gegen den Feind gegeben hatte, hatte
man für manchen Toten mehrere Handreichungen machen müssen. Sie
hüllten die Leiche notdürftig in den zerfetzten grünen Umhang mit dem
goldenen Saum der königlichen Wache ein. Der Scharführer sah Parem
zögern. »Was ist?«
»Seine Waffe«, murmelte der junge Pferdelord verwirrt. »Ich kann keine
Waffe finden. Wir müssen ihm doch seine Waffe in die Hand geben, nicht
Читать дальше