„Die Kollegen auf der Wache sind überlastet. Und ihnen wird immer Sachlichkeit gepredigt. Persönliche Meinungen sind da verpönt“, versuchte Berger, den Protokoll-Ersteller in Schutz zu nehmen.
Marion schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und was – bitteschön – sollen wir jetzt mit diesem Scheiß anfangen? Die Kollegen auf der Wache sind fein ’raus, wenn der Zustellerin wirklich etwas passiert, - sie haben ja ein Protokoll gemacht. Wie ernst das zu alles zu nehmen ist, dürfen wir nun selber herausfinden. Also, was bleibt uns anderes übrig ... Berger, kümmern Sie sich drum.“
Berger ging auf seinen Platz zurück, um sich mit Petra Menzenbach in Verbindung zu setzen. Nach dem dritten Anruf erreichte er die Frau, die am Telefon einen so verstörten Eindruck hinterließ, dass er spontan beschloss, sie aufzusuchen, um sich von der Situation ein genaueres Bild machen zu können.
Kaum hatte er den Raum verlassen, als Dr. Sowetzko das Großraumbüro des K21 betrat. Alle schauten erstaunt auf, denn es war höchst ungewöhnlich, dass sich der Boss hier sehen ließ. Meist zitierte er seine Leute zu sich. Jetzt nickte der Kriminalrat allen betont freundlich zu und setzte sich dann – einen rot-blau karierten Hefter in der Hand - lächelnd vor Marions Schreibtisch.
Au weia, dachte sie sogleich, da ist etwas Größeres im Busch Und bestimmt nichts Angenehmes. Sie sollte mit ihrer Vermutung Recht behalten. Das wurde ihr schon klar, als sie den goldfarbenen Aufdruck auf dem Hefter las: PMM - Power Management Marketing. Sie hatte davon gehört, dass diese Firma PMM durch diverse Behörden geschleust wurde, um Studien für effektivere und kostengünstigere Arbeitsabläufe zu erstellen. Die Ergebnisse gefielen den Auftraggebern im Innenministerium, bekamen sie doch komplizierte und wissenschaftlich verbrämte Berechnungen vorgelegt, welch horrende Summen eingespart werden könnten, wenn ...
Aber jenes Wenn gefiel denjenigen, die es direkt betraf, in den meisten Fällen überhaupt nicht. Angestellte nannten die Leute von PMM Schnüffler und Jobkiller. Abteilungsleiter verfassten mühsam Gegendarstellungen, schimpften über die verlorene Zeit und versuchten, sich an den empfohlenen Organisations-Änderungen irgendwie vorbei zu mogeln.
Dr. Sowetzko sah es an Marions Gesicht, dass sie sein Anliegen längst durchschaut hatte. „Unser Land Nordrhein-Westfalen muss einen harten Sparkurs fahren“, begann er daher erst mal so allgemein wie möglich. „Die Landesregierung und in diesem speziellen Fall der Herr Innenminister haben daher beschlossen, den Apparat aller Landesbediensteten ...“
„Und warum fangen Sie dann ausgerechnet hier bei uns im K21 an?“, unterbrach ihn Marion und ging forsch zum Gegenangriff über: „Sie wissen, dass unsere Mannschaft hier an Unterbesetzung leidet. Kommissar Detering ist immer noch nicht ersetzt worden. Man hat mir bis heute nicht mal einen einzigen Vorschlag unterbreitet.“
„Das wird man auch nicht tun.“ Die aufgesetzte gute Laune des Kriminalrates war dahin. Die Suppe, die er ihr löffelweise schmackhaft machen wollte, hatte sie mit einem Schlag vom Tisch gefegt. „Die Studie der PMM dient unter anderem dazu, Personal-Einspar-Möglichkeiten zu prüfen. Vorher kriegen Sie hier keinen einzigen Mann dazu!“
„Ach, das ist ja interessant. Da verlässt einer unser K21 und wandert zu Kommissar Blitzlösung ins K20, das damit einen Mann mehr hat als Planstellen, und wir hier sollen auf Personal-Einsparungen überprüft werden. Verstehen muss ich das ja wohl nicht, oder?!“
„Vergessen Sie nicht, dass Sie es selber waren, die Detering in die Wüste geschickt hat.“
„Irrtum, Euer Ehren! Ich habe Detering vor die Wahl gestellt, sein unangebrachtes Liebeswerben zu unterlassen oder zu gehen. Er zog es vor zu gehen.“
„Wie dem auch sei“, erwiderte Dr. Sowetzko unwirsch. „Wären Sie denn bereit, Detering zurück zu nehmen, wenn er sich bei Ihnen entschuldigt.“
Marion lachte laut auf. „Jetzt soll ich es honorieren, dass sich jemand dafür entschuldigt, sich in mich verliebt zu haben. Hach, das hat was! – Aber gut: Wenn er versichert, sich künftig im Zaum zu halten und meine Anordnungen zu befolgen, kann er meinetwegen hier wieder mitarbeiten. Ist ja fachlich ein guter Mann. Aber ich rede deshalb nicht mit ihm.“
Mein Gott, sind Frauen kompliziert, dachte Dr. Sowetzko. „Gut, ich rede mit ihm. Aber das ändert ansonsten gar nichts: Ab nächsten Montag wird hier ein Mitarbeiter von PMM seine Arbeit tun. Deterings Schreibtisch ist ja zunächst noch frei. Da kann er sich erst mal etablieren. Und Sie alle hier fordere ich auf, ihn nach Kräften zu unterstützen.“
„Sofern es unsere Zeit erlaubt“, ergänzte Marion mürrisch. „Der Schlaumeier soll nur nicht glauben, er könnte uns in unserer Arbeit behindern oder hier herumschnüffeln. Ich beziehe mich eiskalt auf den Datenschutz: Von uns bearbeitete Fälle und wie wir sie behandeln gehen den guten Mann nämlich nichts an!“
„Ich vertraue trotzdem darauf, dass Sie das Richtige tun. Schlafen Sie noch mal drüber.“ Damit trat Dr. Sowetzko resignierend den Rückzug an. Diese Frau war für ihn heute wahrlich der reinste Albtraum.
Ehe Marion für heute Feierabend machte, beauftragte sie ihren Kollegen Laubitz, auf ihren Mail-Eingang zu achten. Wenn Unterlagen aus Berlin einträfen, möge er sie bitte ausdrucken und in einem Hefter geordnet zusammenstellen. Laubitz nickte; er wusste aus Erfahrung, wie die Chefin so etwas wünschte. -
Peter und Luise waren ihre engste Freunde, seitdem Marion vor vielen Jahren, als sie in Düsseldorf noch ihren Streifendienst absolvierte, Luise von dem unberechtigten Vorwurf eines Ladendiebstahls befreien konnte. Am Abend waren sie und Sven bei ihren Freunden eingeladen. Deshalb musste sie sich beeilen, nach Hause zu kommen. Peter und Luise waren an diesem Tag nämlich von einem Kurzurlaub an der Nordsee zurückgekehrt, zu dem sie Svenja mitgenommen hatten.
Als Marion das Gartentor öffnete und über den mit Bruchstein gepflasterten Weg zur Haustür ging, wurde ihr wieder ein innerer Zwiespalt bewusst: Ich gehe nach Hause – gehe dorthin, wo ich mich von Tag zu Tag mehr zuhause fühle. Dennoch – ich vergesse es immer so leicht - es ist Svens Haus. Er hat Svenja und mich hier nur aufgenommen. Und in diesem Augenblick fiel ihr wieder ein, dass Sven sie heiraten wollte, dass er in einer neuen Familie seine Heimat zu finden glaubte. Habe ich eine Heimat? – Habe ich jemals solch eine innere Heimat gehabt - sie empfunden - sie wenigstens gesucht?
Sven kam ihr im Flur entgegen. „Rio – da bist du ja endlich.“ Er nahm sie in den Arm, sie aber schlang beide Arme um seinen Hals, legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Eine ganze Weile standen sie so stumm und unbeweglich da, bis er besorgt fragte: „He, alles in Ordnung, Liebling?“
Sie sah zu ihm auf und lächelte. „Alles bestens. Komm, ist schon spät. Wir müssen uns ’ranhalten.“ –
Peter und Luise waren mit Svenja erst am Nachmittag in ihr Haus im Düsseldorfer Norden zurückgekehrt. Zwei größere Staus auf der Autobahn hatten ihre Zeitplanung etwas durcheinander geworfen. Da es das Wetter erlaubte, beschlossen sie, am Abend mit Marion und Sven im Garten zu grillen, denn das bedurfte keiner großen Vorbereitung. Während Peter Gartenmöbel und Grill aufbaute, kauften Luise und Svenja noch rasch ein wenig Grillgut beim Metzger und beim Gemüsehändler ein. Brot und Grillsoßen waren noch im Kühlschrank.
Wie waren denn die Tage an der Nordsee? – Klar, dass Peter, Luise und Svenja darüber ausführlich berichten mussten. Man hatte viel unternehmen können, weil das Wetter meist trocken blieb, wenn es auch zum Baden ein paar Grad zu kühl war. Svenja hatte eifrig Beachball-Spielen geübt und sich mit einer ihrer Mitspielerinnen angefreundet, einer Halbamerikanerin namens Roberta, von allen jedoch nur „Robby“ genannt. Durch Robby hatte sie in einer Disco noch jemanden kennen gelernt, bei dessen Erwähnung das blonde Mädchen mit den haselnussbraunen Augen nun einen puterroten Kopf bekam: Lars. Nein, zu Lars mochte Svenja jetzt überhaupt nichts sagen.
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