„Traumhafte Familie. Bis wann hat der Karel Rutkowsky dort im Hause gelebt?“
„Konnte ich nicht genau ermitteln. Vermutlich aber bis zum Tod der Mutter. Telefonisch sind die übrigens nicht erreichbar, der Anschluss ist gesperrt.“
„Okay.“ Marion räumte ein paar Akten beiseite, nahm ihre Dienstwaffe aus der Schublade und sagte: „Kommen Sie! Schauen wir uns das mal aus der Nähe an.“
Sie kamen in eine ehemalige Bergmannssiedlung mit alten Backsteinhäusern, die früher mal von den Zechenbetreibern für bevorzugte Kumpels erbaut worden waren. Das Haus Nr. 18 fiel auf durch plumpe Graffiti-Schmierereien. Von der grün gestrichenen Haustür platzte überall der Lack ab. Der Klingelknopf hing nur noch an zwei Drähten, die aus einem Loch in dem schäbigen Mauerwerk ragten. Als die Tür geöffnet wurde, drang ihnen ein unangenehmer Geruch von gekochtem Kohl entgegen. Ein hoffnungslos übersteuertes Kofferradio kreischte dazu irgendwelche Popmusik.
Passanten blieben auf der Straße stehen, starrten voll Neugier zu ihnen herüber und riefen so etwas wie: „Seid ihr vom Sozialamt? Wird auch Zeit, dass ihr den Stall mal ausmistet!“
„Watt is’? Bringen Sie endlich den Fernseher zurück?“ Im Türrahmen stand ein glatzköpfiger, hagerer alter Mann, der schmuddelig aussah und nach Kneipe roch. Mit rot-unterlaufenen Augen blickte er fragend zwischen Laubitz und Marion hin und her. „Wird auch Zeit! Der Kasten ist seit zwei Wochen in Reparatur.“
Laubitz hielt dem Mann seinen Dienstausweis entgegen. „Herr Rutkowsky? Dürfen wir mal ’rein kommen?“
„Polizei? Ah - das ist gut. Die Betrüger wollen sich meinen Fernseher untern Nagel reißen.“ Der Alte schlürfte einen schmalen Flur entlang in einen Raum mit klobigen verschrammten Möbeln. „Da hatter gestanden, mein schöner Fernseher“, sagte er und zeigte auf ein leeres Tischchen.
„Traurige Sache“, erwiderte Laubitz. „Ist denn Ihr Sohn Karel zu Hause?“
„Der Karel? – Nein, der is’ wieder in Berlin. Hat der den Fernseher mitgenommen?“
„Könnte sein.“ Marion, die sich ungeniert im Zimmer umsah und dabei auch einige Gegenstände zwecks genauerer Betrachtung in die Hand nahm, warf ihrem Kollegen einen anerkennenden Blick zu. „Seit wann ist er denn fort?“
„Der Karel wohnt dort. War nur zu Besuch hier, bis der Fernseher kaputt ging. Dann isser abgereist.“
„Wo hat Ihr Sohn denn hier geschlafen?“
Der Alte zeigte nach oben. „Da hatter noch sein eigenes Zimmer.“ Und als Laubitz den Wunsch äußerte, sich gern dort mal umzusehen, ging er in den Flur und rief: „Gisa – Gisa – Gisa, komm zeigt den Bullen – äh – Leuten hier mal Karels Zimmer! Die denken, dass der da den Fernseher versteckt hat. Glaub’ ich aber nicht, Sie etwa?“
„Möglich ist alles.“
Nach einer Weile erschien eine mittelgroße Frau, der man eine schwere Behinderung sofort ansah. Sie lallte ein paar Silben, es sollte wohl eine Begrüßung sein. Der Alte erklärte, sie könne nicht sprechen, würde aber alles verstehen, das gute Kind. Während Laubitz weiter versuchte, den Alten nach Karel auszufragen und ihn dabei in dem Glauben ließ, alles drehe sich nur um den defekten Fernsehapparat, ging Marion mit Gisa nach oben.
Mitten in dem Raum stand ein Billardtisch. An der hinteren Wand war eine Couch, rechts ein Sideboard mit einer heraushängenden Tür und links ein Bücherregal, in dem zwar keine Bücher standen, aber aller möglicher Kleinkram herumlag. Gisa zog die dicken Fenster-Vorhänge beiseite, um etwas Licht in den völlig überladenen Raum zu lassen.
Marion musste niesen, wahrscheinlich von dem Staub, der vom Aufziehen der Vorhänge durchs Zimmer gewirbelt wurde. Unauffällig zog sie ein Paar Plastikhandschuhe über und betrachtete genauer die Gegenstände in dem Regal. „Gehört Karel diese Mundharmonika?“, fragte sie plötzlich.
Gisa nickte, und Marion wollte wissen, ob er auch bei seinem letzten Besuch darauf gespielt habe. Als Gisa wiederum nickte, steckte sie die Mundharmonika heimlich in einen Beutel und ließ ihn in die Innentasche ihrer Jacke verschwinden. Eine Zigarettenschachtel, in der außer zwei ganzen auch eine angerauchte und wohl eilig wieder ausgedrückte Zigarette waren, nahm sie ebenfalls mit. „Spielt Ihr Bruder Billard?“
Gisa nickte eifrig. Aha! Der scheint sich für Präzisionstechnik zu interessieren, dachte Marion und ließ sich in den Keller führen. Dort fand sie unter vielen anderen Werkzeugen auch eine kleine Drehbank. An einer Wand waren mit Magnetklötzen Detailzeichnungen alter Waffen befestigt. Es überraschte sie nicht; Ähnliches hatte sie erwartet. Einige Male blitzte es. Gisa stieß einen Schreckenslaut aus; Marion deutete auf ihre kleine Digitalkamera, mit der sie soeben ein paar Bilder geschossen hatte. „Hat Ihr Bruder ein Handy?“
Als Gisa nur mit den Schultern zuckte, ging sie mit ihr wieder nach oben ins Wohnzimmer, wo Laubitz dem Alten gerade die gleiche Frage stellte. Der schien nun allmählich doch misstrauisch zu werden. Erst als der Kommissar ihm wiederholt versicherte, er wolle das nur wissen, um nach dem Verbleib des Fernsehers zu forschen, begann er zuerst zwischen Zeitschriften, Pornoheften und billigen Krimischmökern und danach in diversen Schubladen nach dem Zettel zu suchen, auf dem er Karels Handy-Nummer notiert hatte. Währenddessen fragte ihn Marion nach dem Beruf seines Sohnes.
„Ich war ja früher auf der Hütte, aber er ist Bergmann geworden. Hattes da sogar bis zum Steiger gebracht.“
„Aber es gibt hier in Rheinhausen keine Zeche mehr“, warf Laubitz ein.
„Alles hamm die hier dichtgemacht, - die Hütte – die Zeche – dat Kino ...“
„Karel war zuletzt Filmvorführer, nicht wahr?“, fragte Marion. „Hat er das gern gemacht?“
Der Alte hatte plötzlich ein Glas in der Hand. Als er den Schnaps heruntergekippt hatte, meinte er mit glänzend leuchtenden Augen. „Ja. Das war etwas für ihn. Da war er glücklich. Über jeden Krimi hat er Buch geführt und auch, watt die alles darin falsch gemacht haben und ... – Warum is’ denn die Schranktür hier abgeschlossen?“
„Die klemmt vielleicht nur ein wenig. Lassen Sie mich mal.“ Laubitz stellte sich so vor den Schrank, dass der Alte nicht sehen konnte, wie er routiniert mit einem kleinen Werkzeug das einfache Schloss öffnete. „Na bitte, war nur etwas verklemmt.“
In dem Schrank lagen etliche Briefe, eine leere Plastikbrieftasche und drei bunte Kladden. Marion nahm davon gleich eine zur Hand und blätterte darin herum. „Das sind wohl die Filmnotizen?“, wollte sie wissen.
Der Alte riss ihr die Kladde aus der Hand und legte sie eilig wieder in das Schrankfach zurück. Das dürfe niemand anfassen, habe Karel befohlen. Marion gab Laubitz einen versteckten Wink. Der ließ sich die Telefonnummer des Fernsehreparaturdienstes geben, um von seinem Handy dort anzurufen, tat dann aber so, als sei im Wohnzimmer kein Empfang. Also versuchte er es im Flur. „Ja – hier klappt es!“
Der Alte folgte ihm, während Marion flugs die drei Kladden unter ihrem Pullover verstaute und die Schranktür wieder schloss.
Laubitz erfuhr inzwischen, dass der Fernseher zurückbehalten wurde, weil eine frühere Reparatur-Rechnung noch nicht bezahlt sei. „So geht’s nicht, mein Herr“, sagte er streng, „Sie haben kein Recht, das Gerät zum Schein zur Reparatur abzuholen, um es dann einzubehalten. Also – bringen Sie es unverzüglich zurück, - meinetwegen unrepariert.“
„Wieso sollte ich? Wer sind Sie überhaupt?“
„Laubitz – Kriminalpolizei – K21 – Mordkommission.“
„Wa... ?!“
„Mordkommission?“, rief nun auch der Alte entsetzt.
„Allerdings“, meldete sich jetzt Marion zu Wort. „Und nun möchte ich von Ihnen wissen, mit wem Ihr Sohn hier Umgang pflegte. Also bitte: Freunde – Bekannte – Freundin.“ Sie kramte einen kleinen Notizblock hervor. „Wie heißt denn seine Freundin? – Haben Sie mich verstanden?! – Den Namen bitte.“
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