„Vielleicht sollten wir eine kurze Rast einlegen. Wir kommen gut voran, da können wir uns sicher ein paar Minuten Abkühlung gönnen.“ Sein Vorschlag wurde natürlich begeistert angenommen, also steuerte er das Boot ein weiteres Mal auf das Ufer zu. Kormenon half ihm dabei, es ein Stück weit an Land zu ziehen, bevor sie den anderen folgten, die sich bereits unter den Bäumen niedergelassen hatten. Das Mittagessen wurde wieder einmal schweigend eingenommen. Keinem der fünf schien der Sinn großmächtig nach Unterhaltung zu stehen.
Jeder hing seinen eigenen, mehr oder weniger düsteren, Gedanken nach, bis plötzlich der spitze Schrei eines Falken die Stille durchbrach. Kirelle sprang sofort auf und reckte Skrill den Arm entgegen, damit dieser sich darauf niederlassen konnte. Wie schon im Tempel schien sie eine kurze Unterhaltung mit dem Greifvogel zu führen. Schließlich streichelte sie ihm ein paarmal zärtlich über die Brust, bevor er sich wieder in die Lüfte schwang und mit einem weiteren Schrei über den Wald hinweg verschwand. Kirelle kehrte zu ihren Gefährten zurück, die schon angespannt auf ihre Nachricht warteten. „Die Soldaten haben Vaasq passiert und sind in Richtung Nemrai weiter geritten. Sie haben die Stadt vor einer Stunde in südlicher Richtung verlassen.“
„Dann reiten sie nach Vaal.“ schlussfolgerte Tempolo. Kormenon nickte zustimmend. „Bei diesem Tempo werden sie die Stadt in spätestens drei Tagen erreichen. Wir haben nicht viel Vorsprung.“ „Der bald noch kleiner wird, wenn sie weiterhin zu Pferde unterwegs sind und wir zu Fuß.“ beendete der Narr den Gedankengang des Soldaten. „Wir sollten aufbrechen. Je früher wir Vaal erreichen, desto besser.“ Niemand erhob Einwände, sodass sie das Boot kurz darauf erneut in die Flussmitte steuerten. „Haben wir überhaupt noch eine Chance ihnen zu entkommen?“ sprach Kormenon nach einiger Zeit seine Befürchtungen aus. „Oder ist es nur eine Frage der Zeit bis sie uns erwischen?“
Tempolo wusste keine Antwort. Gerne hätte er den Jüngeren beruhigt, doch realistisch betrachtet standen ihre Chancen mehr als schlecht. Es war Narani, die das Wort ergriff und damit die Blicke der anderen auf sich zog. „Es gibt immer eine Chance. Solange wir nicht aufgeben. Natürlich liegen ein schwerer Weg und sicher auch viele Gefahren vor uns, aber wenn wir zusammenhalten, können wir alles meistern.“ Sie sprach voller Überzeugung und auch ihr entschlossener Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie jedes Wort ernst meinte. Tempolo war beeindruckt von dieser Stärke, die man dem stillen Mädchen so gar nicht zutraute.
Sie wirkte so scheu und beinah zerbrechlich, doch sie hatte Mut und in diesem Augenblick erinnerte sie ihn ein wenig an Prinzessin Xiarana. Auch wenn er sie noch immer nicht einschätzen konnte, so hatte er doch mittlerweile Vertrauen zu der Tänzerin gefasst. „Narani hat Recht.“ erklärte er deshalb. „Wir haben eine Chance, auch wenn sie gering sein mag. Wir müssen sie nur nutzen.“ In Gedanken begann er bereits Pläne zu schmieden, was den Waldgeistern nicht verborgen blieb.
„Was hast du vor?“ wollte Tarmin wissen. Der Narr holte die Karte hervor und breitete sie aus. Während sich die Anderen so gut es auf dem beengten Raum ging, darüberbeugten, begann er zu erklären. „Die Soldaten werden Vaal spätestens zwei Tage nach uns erreichen. Womöglich schon früher. Solange wir uns nicht selbst verraten, wissen sie jedoch nicht, wo wir hinwollen. Also werden sie nach der wahrscheinlichsten Route suchen, die wir einschlagen können. Welche wäre das?“ Kormenon zeigte auf die Karte. „Der Harras-Wald wäre wohl die wahrscheinlichste Route. Würden wir fliehen wollen, könnten wir uns von dort zum Hafen von Arruhn durchschlagen und ein Schiff suchen, dass uns über das südliche Meer bringt. Andererseits ist dieser Weg schon beinah wieder zu offensichtlich und würde uns wohl auch zu nah an Burg Harram heranführen. Sie werden darum wahrscheinlich annehmen, wir wollen in Richtung Norden über die Terkash-Ebene. Das Gebiet liegt außerhalb der Grenzen Erials und bietet viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.“
Tempolo nickte. „Du hast Recht. Aber werden sie alle nach Norden reiten oder sich aufteilen? Könnten sie auf die Idee kommen ein paar Mann nach Kyphros zu schicken?“ „Ich bin nicht sicher, aber es wäre möglich.“ Beide Männer sahen sich an und dachten das Gleiche. Es wäre ein Glücksspiel, auf das sie sich wohl oder übel einlassen mussten. Kirelle schien jedoch anderer Meinung. „Wenn sie nach Kyphros reiten, welchen Weg werden sie nehmen?“ „Den gleichen Weg wie wir. Die große Straße am Kyphron-See entlang, vorbei an den Ausläufern des Gebirges.“ Der Narr schien nicht zu wissen, worauf die Waldgeist-Dame hinauswollte. „Dann müssen wir eben einen anderen Weg einschlagen.“
"Und welchen Weg schlägst du vor?“ „Den Weg, den sie am wenigsten erwarten, natürlich. Wir gehen durch das Gebirge.“ Ihre Begleiter sahen sie sprachlos an. Kormenon war der Erste, der sich wieder erholte. „Das ist nicht dein Ernst. In diesem Gebirge wimmelt es vor Gefahren.“ Doch Kirelle blieb unbeeindruckt. „Und welche Gefahren sind das genau?“ „Wetterschwankungen, Erdrutsche, Klüfte...“ begann der Soldat aufzuzählen. „Gulwar.“ ergänzte Tempolo und sorgte mit diesem einen Wort erneut für Stille, bevor er sich direkt an die Waldgeist-Dame wandte:“ Die anderen Gefahren, wie Klüfte oder das Wetter mögen sich kalkulieren und vielleicht umgehen lassen. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass du die Wölfe Rivinikans nicht fürchtest.“ „So töricht bin ich nun wirklich nicht. Aber auch sie sind eine kalkulierbare Gefahr. Sie sollen bei Tage schlecht sehen und sich frühzeitig durch ihr Geheul ankündigen.“
Doch der Narr widersprach ihr erneut. „Das sind Behauptungen und Legenden. Es gibt keine Berichte von Zeugen, die tatsächlich einem Gulwar gegenüber standen und diese Begegnung überlebt hätten, um davon erzählen zu können.“ Darum bemüht den Streit zu schlichten mischte sich nun Tarmin ein. „Ihr habt beide Argumente, aber so werden wir zu keinem Ergebnis kommen. Gefahren lauern auf jedem Weg. Wir können nur entscheiden, welche Gefahr wir wählen – die Gulwar oder die Soldaten. Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass man eigentlich fast jedem Angriff durch ein Tier entgehen kann, wenn man sich nicht allzu dumm anstellt. Warum sollten die Gulwar eine Ausnahme sein? Aregor hingegen wird uns sicher nicht zuhören.“
„Ich glaube, ich würde mich lieber mit den Gulwar anlegen, als mit Aregor und den Soldaten.“ meldete sich Kormenon zu Wort. „Du wählst die Gulwar?“ fragte Tempolo schockiert. „Ja. Besser von einem Wolf gefressen, als von den Soldaten gefangengenommen und eingesperrt oder hingerichtet für eine Tat, die ich nicht begangen habe.“ „Ich schätze du hast Recht.“ gestand der Narr seufzend ein. „Die Meinung der Waldgeister kennen wir bereits. Was denkst du?“ fragte er Narani. „Wir sollten durch das Gebirge gehen.“ „Dann ist es also entschieden.“ gab sich der Narr geschlagen. Er steckte die Karte wieder in seine Tasche und stellte erstaunt fest, dass die Sonne ein beträchtliches Stück weitergewandert war, während sie diskutiert hatten.
Der Flusslauf war hier sehr gerade und man konnte in der Ferne bereits vage die Umrisse der Stadt Vaal erkennen. Tempolo überlegte, seine Gefährten darauf aufmerksam zu machen, ließ es dann aber doch sein. Sie alle schienen einmal mehr in Gedanken vertieft. Kirelle wirkte entschlossen, während Tarmin ein wenig unsicher schien. Kormenon`s Miene konnte der Narr nicht deuten. Sein Blick glitt weiter zu Narani, die geistesabwesend auf das Wasser starrte. Sie hatte ihre Entscheidung als Einzige nicht begründet. Er würde dieses Mädchen wohl nie verstehen. Doch seltsamerweise vertraute er ihr mittlerweile. Sie standen auf der selben Seite. Daran zweifelte er keine Sekunde.
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