Mit dem die Liste seiner Freunde aber auch schon endete. Völlig in seine trübsinnigen Gedanken versunken, merkte Kormenon nicht, wie sich ihm jemand näherte. Erst als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, sprang er erschrocken auf. Erleichtert erkannte er Narani, die sich sofort entschuldigte. „Bitte verzeih, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Schon gut. Ich war unachtsam. Was eigentlich nicht vorkommen darf, während man Wache hält.“ schalt er sich selbst. „Sei nicht so streng mit dir. Du hast viel durchgemacht in den vergangen Tagen.“
Kormenon seufzte und setzte sich wieder auf den Baumstamm. „Warum bist du schon wach?“ wechselte er das Thema. Narani zuckte mit den Schultern und ließ sich neben ihm nieder. „Ich weiß nicht. Irgendwie lassen mich meine Gedanken nicht zur Ruhe kommen.“ „Und woran denkst du?“ „An das was hinter uns liegt. Und daran, was vielleicht noch vor uns liegen mag.“ Kormenon zögere einen Augenblick, bevor er doch die nächste Frage stellte. „Warum bist du mit uns gekommen?“ Sie antwortet mit einer Gegenfrage. „Hattest du jemals das Gefühl, etwas einfach tun zu müssen, ohne dass du den Grund dafür nennen konntest?“ „Ich glaube ich weiß was du meinst.“
Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte und auch Narani schwieg. Als er zu ihr hinübersah, erkannte er, dass sie über den Fluss ins Leere starrte. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, also nutzte er die Gelegenheit, um sie einmal ungestört zu betrachten. Die Tänzerin war eine Schönheit, das konnte man nicht verleugnen. Ihr langes dunkles Haar und ihre braunen Augen, die beinah sehnsüchtig in die Ferne blickten, ließen sie wie ein Geschöpf aus den alten Mythen erscheinen. Sie schien stets von einer stillen Melancholie umgeben. So völlig anders als seine Prinzessin, die immer ein Lächeln auf den Lippen und ein freundliches Wort für Jeden hatte. Sie waren wie Tag und Nacht und Kormenon fragte sich plötzlich, warum er die Beiden miteinander verglich.
In dem Versuch diese Gedanken zu verscheuchen nahm er das Gespräch wieder auf. „Vermisst man dich nicht im Tempel?“ Das Mädchen gab keine Antwort und schien ihn gar nicht gehört zu haben. Als Kormenon jedoch erneut fragen wollte, meinte sie plötzlich: „Die Meisten werden noch nicht einmal bemerkt haben, dass ich nicht da bin.“ „Läuft man sich im Tempel so selten über den Weg? Er schien mir nicht so gewaltig zu sein, dass das Verschwinden einer Person nicht auffallen würde.“ Sie wandte sich endlich vom Fluss ab und sah ihn an. Ihr Blick war traurig und sie erschien in diesem Moment unglaublich zerbrechlich. „Ich bin für den Tempel nicht wichtig. Es spielt keine Rolle, ob ich dort bin oder nicht. Die Anderen bemerken mich kaum, wenn sie mir begenen. Wie sollen sie dann bemerken, wenn ich nicht da bin?“
Kormenon war sprachlos, doch sie schien auch keine Antwort zu erwarten. Sie hatte den Kopf gen Osten gewandt, wo die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Himmel orange färbten. „Es wird Zeit für den Morgengruß.“ Mit diesen Worten erhob sie sich, um zum Fluss zu gehen, als die Stimme des Soldaten sie noch einmal zurückhielt. „Was ist mit deinen Freunden? Vermissen sie dich nicht?“ „Welche Freunde?“ war alles, was Narani darauf erwiderte, bevor sie ans Ufer ging, um die Sonne zu begrüßen.
Kormenon beobachtete sie schweigend. Er hatte einiges über sie erfahren und glaubte so langsam, sie zu verstehen. Sie schien einsam und traurig, beinahe zerbrechlich, aber dennoch stark. Plötzlich fühlte er den Drang, sie beschützen zu müssen. Mehr als alles andere wollte er sie lächeln sehen. Er konnte sich nicht erklären, warum er sich mit diesem stillen Mädchen so verbunden fühlte. Vielleicht lag es daran, dass sie wohl mehr gemeinsam hatten, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.
Ob sie davon geträumt hatte eine Mondtänzerin zu werden, so wie er von Kindesbeinen an von der Sterngarde geträumt hatte? Vielleicht war auch für sie der große Traum durch seine Erfüllung zum Alptraum geworden. Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn sich wieder Gelegenheit bot. Nun musste er jedoch seine übrigen Gefährten wecken. Während die Sonne langsam höher stieg wurde gefrühstückt und das Lager abgebrochen. Keine Stunde später waren sie schon wieder unterwegs.
***
Abermals glitt das Boot mit der Strömung dahin. Nach einiger Zeit holte Tempolo die Karte aus seiner Tasche und faltete sie auseinander. „Wenn die Strömung nicht nachlässt müssten wir Vaal bis Einbruch der Dämmerung erreichen.“ meinte er zuversichtlich. Kormenon beugte sich nun ebenfalls über die Karte. „Es sieht ganz danach aus.“ stimmte er dem Narren zu. „Dann müssen wir nur noch ein Nachtquartier finden.“ „Das ist keine Schwierigkeit.“ mischte sich nun Kirelle ein. „Dernam, ein alter Freund von Tarmin und mir, betreibt dort eine Gaststätte. Er findet sicher noch einen Platz für uns.“ Tempolo nickte zufrieden.
„Gut, eine Sorge weniger. Dann verbringen wir die Nacht in seiner Gaststätte. Am nächsten Morgen können wir noch einmal unsere Vorräte aufstocken. Dann lassen wir das Boot zurück und gehen zu Fuß weiter.“ Die Anderen stimmten seinem Plan zu. Keiner erwähnte die Bedrohung durch die Soldaten, die sicher nicht so leicht aufgeben würden. Sie alle waren sich dieser Bedrohung bewusst, auch ohne es laut auszusprechen. Der Narr packte die Karte wieder weg und fragte die Waldgeister nach Dernam. Auf ihren alten Freund angesprochen begannen die Beiden sofort eine begeisterte Erzählung, wobei sie sich ständig gegenseitig ins Wort fielen. Tempolo, der dieses Verhalten längst gewohnt war, hörte ihren Ausführungen belustigt zu. Auch Kormenon amüsierte sich sonst immer gern über das Gebaren seiner Freunde.
Heute jedoch schenkte er ihnen keine Aufmerksamkeit. Der Blick auf die Karte hatte ihm gezeigt welch ein langer Weg noch vor ihnen lag. Wer vermochte zu sagen, wann sie das Orakel erreichten. Und ob sie es überhaupt erreichen würden. Er dachte an das Gespräch mit Narani zurück und seine Augen suchen die schlanke Gestalt des Mädchens. Sie wandte ihm den Kopf zu, als hätte sie seinen Blick gespürt und er rückte ein Stück näher an sie heran. „Glaubst du wir werden das Orakel tatsächlich finden?“ „Ja, das glaube ich.“ antwortete sie ohne zu Zögern. „Wie kannst du so sicher sein?“ „Ich vertraue auf meine Göttin und .. auf das Schicksal.“
„Das Schicksal.“ wiederholte Kormenon leicht skeptisch. „Schön, wenn wenigstens du Vertrauen hast.“ Beide waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie der Narr sie beobachtete. Mit einem Lächeln auf den Lippen überlegte Tempolo, dass Narani`s Motive für diese Reise vielleicht doch nicht so geheimnisvoll waren, wie er anfangs geglaubt hatte. Die Art, wie sie zu Kormenon aufsah, ließ zumindest gewisse Vermutungen zu. Kopfschüttelnd wandte er sich schließlich von den Beiden ab und bemühte sich, der Erzählung von Tarmin und Kirelle zu folgen.
Diese zog sich allerdings ziemlich in die Länge. Dernam war ein wirklich alter Freund und Waldgeister legten immer sehr viel Wert auf Details. Tempolo bekam einen genauen Überblick über Dernam`s Jugendzeit, seine Erfolge als Jäger und seine Misserfolge, was Mädchen anbetraf. Besonders zu diesem Thema konnten die beiden Waldgeister einige Anekdoten erzählen. Schließlich hatte Dernam aber wohl doch ein Mädchen gefunden und geheiratet. Er war mit ihr nach Vaal umgezogen und hatte dort letzten Endes die Gaststätte ihres Vaters übernommen.
Als Tarmin und Kirelle ihre Erzählung endlich beendet hatten, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Der nahende Sommer kündigte sich mit stetig steigenden Temperaturen an, die den fünf Gefährten zunehmend zu schaffen machten. Die Bäume des Dorveon-Waldes hatten eine gewisse Zeit für etwas Abkühlung gesorgt, doch inzwischen war der Wald so weit vom Ufer zurückgetreten, dass die Schatten den Fluss nicht mehr erreichten. Tempolo wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß von der Stirn. Schließlich brach er das Schweigen, das sich einmal mehr über die Reisenden gelegt hatte.
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