Anny von Panhuys - Die Walzerkönigin

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Als die beiden Freundinnen Hilde Tomiczek und Martha Stiller heimlich Arm in Arm zu später Stunde in der Stadt spazieren gehen, steht noch das ganze wunderbare Leben vor ihnen, ohne Sorgen und Nöte. Besonders die lebhafte Martha sperrt sich gegen die Zukunftspläne ihrer Eltern – sie träumt von einer Karriere als Schauspielerin. Doch bald holt sie das Schicksal ein: Ihr Vater, ein angesehener Pastor, begeht Selbstmord, als sein Griff in die Kirchenkasse bekannt wird. Eines Tages erfährt Hilde per Brief, dass Martha einfach auf und davon ist und sich einer Theatertruppe angeschlossen hat. Als kurz darauf auch ihr Vater stirbt, muss sie wie ihre Freundin die Stadt verlassen. Mit nichts im Gepäck als ein bisschen Erspartes und Vaters geliebter Geige kommt sie in einer kleinen Berliner Pension unter. Doch auch in der Großstadt scheint es fast aussichtslos, Geigenschüler zu finden. Langsam schmilzt das winzige Vermögen dahin. Einmal nimmt sie, völlig überwältigt von den Sorgen, die Geige zur Hand: Ihr zutiefst emotionales Spiel erzählt von der Trauer um den Vater, von ihrer Verzweiflung – ihr ganzes Herzblut legt sie in die Walzer ihres Vaters, und ihr Spiel wird von jemandem nebenan gehört. So beginnt ganz plötzlich eine ungewöhnliche Karriere, die auch die Wege von Martha kreuzt. Doch das Schicksal wird sich zwischen sie stellen.Ausdrucksvoll und romantisch erzählt der Roman vom schicksalhaften Leben der «Walzerkönigin», die über die Musik ihres Vaters zu sich selbst findet.-

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Anny von Panhuys

Die Walzerkönigin

Roman

Saga

Die Walzerkönigin

© 1917 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570395

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel.

Hilde Tomiczek und Marta Stiller flüsterten und kicherten eifrigst und gingen wie zierliche Schatten durch das Dunkel des Vorfrühlingsabends.

In der Grabenstrasse war es still, nur ab und zu huschte ein Pärchen, das der linde Abend zu einem Plauderstündchen zusammengeführt, beim Nahen der beiden Mädchen auseinander. In der Kleinstadt muss man sehr vorsichtig sein, sonst ist man bald in aller Mund; der Klatsch hat schon manches junge jubelnde Glück zu Fall gebracht, dass es sich nimmer wieder erheben konnte. Nimmermehr. Darum huschten die Pärchen bei näherkommenden Schritten so jäh auseinander.

Die Grabenstrasse war zu Ende, vor den beiden Mädchen breitete sich der Düppelplatz. Rings um den kleinen Platz standen Lindenbäume, doch streckten sich die Zweige noch kahl und leer gen Himmel.

Wenn man quer über den Platz ging, kam man in die Bahnstrasse, die Hauptverkehrsader des Städtchens. Die Mädchen sahen einen Moment wie unschlüssig nach der Richtung hinüber. In der Bahnstrasse brannten dreimal soviel Gaslaternen als in der Grabenstrasse, und Menschen gab es um diese Zeit dort auch. Aber man kam auch in Gefahr, Bekannte zu treffen, und in Schwärzestadt gehörte es noch weniger als sonstwo zum guten Ton, dass sechzehnjährige höhere Töchter um die neunte Stunde noch einen Strassenbummel machten.

Marta Stiller, mit dem langen dunkeln Zopf und der energischen Raubvogelnase, schob ihren Arm unter den der Freundin, und langsam schlenderten die beiden den Weg, den sie gekommen, wieder zurück. Das Kichern von vordem war zwischen ihnen verstummt, sie redeten von ernsten Dingen. Von Dingen, die ihre jungen empfänglichen Herzen stark bewegten.

„Weisst Du, Hilde,“ meinte Marta, „allzuweit darf ich meine Gedanken nicht spazieren führen, sonst wird mir bitterangst. Ach Gott, so viel ich mir schon Mühe gegeben habe, an Beredsamkeit fehlt es mir doch wahrlich nicht, es will und will mir nicht gelingen, Mutter den sondervaren Plan auszureden, mich Zahnärztin werden zu lassen. Weiss Gott, wie sie auf diese Idee kommt!“ — Mit festem Druck auf den Arm zwang sie die Freundin stehen zu bleiben. „Und ich tu’s und tu’s nicht,“ kurz und trotzig stampfte ein kleiner Mädchenfuss das holprige Pflaster. „So’ nen Beruf mag ich nicht, dazu hab ich kein Talent, nee. — Brr,“ sie schüttelte sich, dass ihr Zopf aufgeregt hin und her pendelte, „fremden Leuten im Mund herumfahren, das passt mir ganz und gar nicht, und für mich selbst brauch’ ich nicht Zahnärztin zu werden.“ Sie lachte plötzlich übermütig, so dass ihre kleinen gleichmässigen Zähnchen aufblitzten wie poliertes Elfenbein.

„Da hast Du recht, Marta, denn Du hast die schönsten Zähne, die ich bisher gesehen habe,“ sagte die blonde Hilde anerkennend und zog die Freundin weiter.

„Ja,“ nickte die andre, „meine Zähne sind schön, auch Haar und Augen sind nicht ohne, wenn nur die Nase nicht wäre,“ sie seufzte komisch, „Vater behauptet, als die Nasen verteilt wurden, da hätte ich nicht ein-oder zweimal, sondern mindestens ein dutzendmal ‚hier‘ gerufen.“

Nun lachten sie beide doch. Das ging ihnen immer so, ihren Ernst durchbrach meist rasch wieder ein übermütiges Wort. Dann plauderte Marta von ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden. Zu Hilde konnte sie davon sprechen, wenn sie es dagegen daheim einmal wagte, dann blickte man sie entsetzt an, als rede sie irre. — Mitten in das fröhliche Plänemachen tönte von der Peterskirche herüber tief und nachhallend ein Glockenschlag.

„Schon halb zehn,“ rief Marta Stiller erschreckt, „da ist’s Zeit, nach Hause zu gehen.“

Schneller schritten die beiden zu.

Vor einem schlichten zweistöckigen Hause machten sie Halt. Hilde öffnete von aussen den nur leicht angelehnten Flügel eines niedrigen Parterrefensters. Mit einer Bewegung, der man die lange Übung anmerkte, schwang sie sich dann durch das Fenster. Noch ein paar geflüsterte Worte, ein flüchtiger Händedruck, und Marta eilte davon.

Hilde sah, leicht aus dem Fenster gelehnt, der andern noch einige Augenblicke nach, bis das stumpfe Grauschwarz der öden Grabenstrasse die Freundin umfing und über ihr zusammenschlug.

Nun schloss das junge Mädchen das Fenster und tappte in ihrem finsteren Zimmerchen zum Tisch, wo Lampe und Zündhölzer standen. Eben wollte sie ein Hölzchen anstreichen, da liess sie die Rechte wieder sinken und hob lauschend den Kopf.

Feine getragene Geigentöne erhoben ihre Stimmen weich und kosend in langsamem Dreiachteltakt und schlangen sich zusammen zum Reigen, sangen süss und feierlich einen Walzer. Es war ein Walzer, der wenig gemeinsames hatte mit denen, die unsre modernen Operettenkomponisten der Bühne schenken. Ein Walzer rund und voll, und doch kam er daher wie wehe Klage, unendliches Leid. Lautes Schluchzen tönte daraus und überwindendes Lächeln. Über allem triumphierte aber eine hoheitsvolle Resignation, und ein befreites Sichlösen von allem Irdischen. Mit langgezogenem, sanft ersterbendem Mollakkord schloss der letzte Bogenstrich.

In Hildes dunkelm Zimmer zitterte der schwere weiche Akkord nach und hing machtvoll über dem kleinen Raum. Das Mädchen starrte mit grossen Augen in die Finsternis, und schwer atmend hob sich ihre junge Brust. Ihr war zumute, als hätte ihr einer ein Bekenntnis abgelegt — von Lust und Freude, vom Entsagen und siegreichen Überwinden.

Der so spielte, der hatte überwunden, der ersehnte nichts Grosses mehr von der Zukunft und sah allen kommenden Tagen ruhig entgegen. Und er, der so spielen konnte, war ihr Vater. Des Daseins Enttäuschungen lagen hinter ihm, weit, weit ...

Hilde erzitterte. Wenn er so spielte wie heute, dann fühlte sie ein Grauen vor der Zukunft, eine schreckliche, beklemmende Lebensfurcht umspann sie wie ein riesiges Netz, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. In Gedanken erblickte sie die Freundin, wie sie vorhin in der Finsternis der stillen Strasse untertauchte. Und die abendliche Dunkelheit da draussen schien ihr plötzlich ein Symbol des Lebens, und ein Schauer machte ihren schlanken Körper frösteln.

Auch Hilde war auf ihren Wunsch seit Jahren von dem Vater im Geigenspiel unterrichtet worden, sie spielte Konzertstücke sauber und mit guter Technik. Auch hatte sie ein vorzügliches musikalisches Gehör; kaum vernommen, spielte sie des Vaters Walzerkompositionen nach. Aber das Seltsame, das Überwältigende, das seinen einfachen Walzern die Grösse gab, das war ihr nicht gegeben, davor stand sie machtlos.

Jetzt rieb sie schnell das Zündholz an, und nun flammte der Docht der Lampe auf und füllte mit beruhigendem Lichte den Raum.

Ein Lächeln huschte um den frischen Mädchenmund. Gott, welch ein Angsthase sie doch manchmal war. Wie konnte man sich vor dem Leben fürchten? Das musste doch bunt und farbenprächtig sein, stark und berauschend schön und voll von glücklichen Überraschungen.

Wieviel hatten Marta und sie schon über das Leben geplaudert. Alle ihre frohen Lebenshoffnungen hatten sie sich aufgebaut wie Weihnachtsgeschenke, die man sich selbst macht und dann trotzdem bestaunt. Und das Leben erschien ihnen wie ein köstliches Märchenbuch, in dem sie bald lesen durften nach Herzenslust. Marta schwärmte davon, eine grosse Schauspielerin zu werden, und zugleich eine grosse Dame mit seidenen Kleidern und seidenen Strümpfen, die sie wegwerfen würde, wenn auch nur das kleinste Loch darin war Gestopfte Strümpfe — oh, so etwas trägt „man“ doch nicht.

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