Moment mal.
Ein verschlafenes „Hast du denn immer noch nicht genug, du Tier?“, das eindeutig von einer weiblichen Stimme stammt, lässt mich abrupt zu einem dieser gefrorenen Eiswürfel im Säckchen erstarren.
Genau in dem Moment geht das Licht an.
Als mir klar wird, dass es nicht die Speckpölsterchen meines Bruders sind, die ich da in beiden baumwollbehandschuhten Händen halte, sondern nackte, weibliche Brüste, ziehe ich so schnell die Flossen weg, als hätt ich mich geradewegs daran verbrannt.
Pyrophobie: Angst vor Feuer.
Ich sehe mich einer nackten, strohblonden Frau mittleren Alters mit stark erweiterten Pupillen gegenüber, der gerade alle Gesichtszüge auf einmal entgleisen.
Und das Schlimmste ist: Ich habs angefasst .
Ein ohrenbetäubender Schrei entgleitet uns synchron. Okay, bei mir wars ein Schockschnorchelbrüller.
Daraufhin folgt eine Schrecksekunde, in der sie meinen Mini-Desinfektionsspender für unterwegs, der an ungewachster Zahnseide um meinen Hals baumelt, mustert, während ich entsetzt auf ihr volles Dekolleté starre, auf dem sie unübersehbar die Worte „ PRINCESS “ in ihre Haut gestochen trägt.
Belonophobie: Angst vor Nadeln .
Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich meinen, nur in Boxershorts bekleideten, Bruder an der Tür stehen – die eine Hand am Lichtschalter – in der anderen ein Glas mit bräunlich schwarz gefüllter Flüssigkeit – vermutlich Cola – in der klackernd-knisternde Eiswürfel schwimmen, haltend.
Mein Gehirn stellt die nötigen Verbindungen her.
Ihres auch.
Mit männlichem Schweiß getränkte Luft – Kleidung überall – nackte, ältere Frau im Bett meines Bruders – kein wassergefüllter Eiswürfelbeutel, sondern ein kleiner, mit Körperflüssigkeit gefüllter, geplatzter Luftballon auf dem Boden.
Auf ein stilles Zeichen hin, kreischen wir uns dann im Duett die Seele aus dem Leib. Sie aber wohl aus anderen Gründen als ich.
Während ich hauchzart den Rand des Wahnsinns touchiere, wird mir klar, dass mein Anblick nicht gerade für mich spricht. Die Taucherbrille mit Schnorchel zusammen mit meinem Mundschutz, den Baumwollhandschuhen, den Plastikschlappen und der, an einer Kordel, bis auf Anschlag zusammengezogenen Kapuze meines auskochbaren, ebenfalls hypoallergenen, ökologisch abbaubaren Ganzkörperstrampelanzuges muss für sie ziemlich verstörend wirken. Für alle anderen in dem Haus grenzt mein sonderbarer Aufzug ja an Normalität.
Auf jeden Fall hab ich noch nie einen Menschen so schnell aus einem Bett hüpfen und sich zur Tür neben meinen Bruder retten gesehen.
„ Was ist das? “, will sie total aufgebracht wissen, während sie recht erfolglos versucht, ihre Blöße zu verbergen. Dabei sieht sie immer mal wieder zur Tür, wahrscheinlich um sich den Fluchtweg bis zuletzt offenzuhalten. Auch, ohne dass sie in meine Richtung gezeigt hätte, wär klar gewesen, wen sie mit der Bezeichnung „ Was “ meint.
„Püppchen“, schnorchle ich und hebe die Hand zum Gruß, bevor mein Bruder die Distanz zu mir überwinden, nach mir schnappen, mich aus seinem Bett ziehen und mir den Mundschutz zuhalten konnte – was er bestimmt gleich wahrmachen wird. Gleich nachdem er aus der Starre erwacht, die ihn wie angewurzelt neben der Frau stehen lässt, die er scheinbar irgendwo aufgerissen und mit nach Hause genommen hat.
Schon bei der blanken Vorstellung, er könnte meine schlimmste Befürchtung wahrmachen, geht mir der Kackstift gewaltig auf Grundeis.
Jede Intervention wär aber sowieso schon zu spät gewesen, da meine Eltern in dem Moment durch die Tür stürmen, in dem ich die Panikattacke nicht mehr abwenden kann, was üblicherweise in einem absoluten Kontrollverlust endet, der mich schreiend und um mich schlagend durchdrehen lässt.
Was gerade passiert. Auf dem Bett meines Bruders.
Zu meiner Verteidigung: Immerhin bricht gerade das gesamte Chaos, das sich Welt nennt, ungefiltert über mich herein.
Aber in den paar kläglich gesäten, lichten Momenten spüre ich, dass ich da dieses neue Gefühl in mir entdeckt habe, das ich bis jetzt noch nicht kannte: Jemand hat Angst vor mir.
Vor MIR!
Dem Angsthäschen, dem Feigling, dem Schisser, dem Hasenfuß, dem Duckmäuschen!
Was mich weit mehr wundert, bevor ich mich in Grund und Boden schämen kann, meine Kehle sich zuschnürt und mich der ultimative Angstschub in die Knie zwingt, denn Beinahe-Anfassen durch meinen Bruder geht schon mal gar nicht (Beinahe-Anfassen ist böse):
Ich habe endlich etwas gefunden, das mir keine Angst macht: Ich habe keine Angst, wenn jemand anderes Angst vor mir hat.
Ferner noch – ich finde Gefallen daran.
Finde Gefallen daran, jemandem Angst zu machen.
Besorgnis und Vorwurf schwingen in den Blicken meiner Eltern gleichermaßen mit, während ich abwechselnd den Wirkstoff meines Inhalators und die kohlendioxidreiche Luft, aus der chlorfrei gebleichten Papiertüte in meine brennenden Lungenflügel ziehe, um nicht erneut zu kollabieren, bevor ich die Gasmaske wieder an ihren Platz zurechtrücke, die ich laut Mum eigentlich nur bei Naturkatastrophen, Bombenangriffen oder Kernschmelzen in Atomkraftwerken aufsetzen darf.
Wenn das kein absoluter Ausnahmezustand ist, weiß ich auch nicht mehr. Das scheint sie ebenso zu sehen, da sie mir das Teil noch nicht entrissen hat.
Ich bin noch zu aufgewühlt und verstört, um irgendwelche Erklärungen abzuliefern, also begnügen sich meine Eltern mit meinem jämmerlichen Anblick, um sich – da bin ich mir sicher – gleich nachdem sie sich an mir sattgesehen haben, meinen Bruder vorzuknöpfen, der lässig am Küchentresen lehnt.
Gespannt wie ein Flitzebogen und mit einem Hauch Genugtuung sehe ich seiner bevorstehenden Abreibung von der sicheren Distanz aus, fest an die gegenüberliegende Wand gepresst, entgegen.
Das wird köstlich. Sonst kommt er immer mit allem durch, aber heute nicht. Heute haben sie ihn auf frischer Tat ertappt.
Sonst bekommt Charly nie Ärger für etwas, das er getan hat. Die unzähligen Streiche, die er mir gespielt hat, blieben ungesühnt, weil er es immer geschickt eingefädelt hat, alles zu vertuschen und als puren „Zufall“ wirken zu lassen.
Bis heute.
So viele Zufälle gibt’s gar nicht – das ist auch meinen Eltern klar, hab ich zumindest das Gefühl. Immer wenn Charly etwas angestellt hat, sehen sie sich so komisch an. So als würden sie ein Geheimnis haben.
Aber heute geht das nicht. Das ist zu offensichtlich. Und ganz z ufällig wird er jetzt dafür büßen.
Das wars auf jeden Fall wert. Selbst meinen peinlichen Niedergang erachte ich als Opfer, das ich bereit war, zu bringen.
Für diesen Moment der Gerechtigkeit.
„Du kennst die Regeln, die in diesem Hause gelten, Fynn.“ Meine Mum, die sich bis jetzt damit begnügt hat, mich kritisch zu beäugen, klingt echt zornig. Ihre Worte wären Musik in meinen Ohren – würde ich vor Musik nicht Angst haben – Melophobie – und wär ich mir nicht absolut sicher, dass sie gerade den Namen meines Dads mit dem meines Bruders vertauscht hätte.
Das ist bestimmt den frühen Morgenstunden zuzuschreiben. Egal, es ist trotzdem Balsam für die Seele.
„Ich erlaube keine Menschen in diesem Haus“, fährt sie ihre Strafpredigt, die komischerweise tatsächlich an Dad gerichtet ist, fort. „Das weißt du ganz genau.“
Die Frequenz des Raschelns meiner Papiertüte wird schneller und lenkt ihre Aufmerksamkeit von meinem Dad ab. Tja, das ist auch so eine Sache, die mir unsagbare Angst macht und die ich bis jetzt ganz gut verdrängt habe: Wir sind keine Menschen.
Wir sind Hexen. Wiccaphobie: Angst vor Hexerei. Ist echt lästig, kann ich nur sagen. Besonders in einem Haushalt voller magischer Wesen.
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