1 ...7 8 9 11 12 13 ...42 Da kommt nichts. Rein gar nichts.
Seine Macken werden aber anstandslos toleriert. Niemand regt sich darüber auf. Sie nehmen es einfach so hin. Bei mir machen sie ein Theater, aber die Psychose, die Charly hat, ist okay.
„Und da sagen die, ich bin das Problemkind“, rutscht es mir raus. „Kleine Bewusstseinsstörung oder was?“, setze ich nach.
Der Kopf meiner Mum schießt in meine Richtung. Oh, oh, Startschuss für unser Streit-Lieblingsthema Nummer zwei: Mein Bruder.
„Dein Bruder ist kein Autist. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“, stellt sie aufbrausend fest.
„Er spricht nicht, Mum. Außerdem zeigt er keinerlei emotionale Regung. Ein eindeutiger Triggerpunkt, wenn du mich fragst.“
„Dich fragt aber niemand, Fräulein Neunmalklug“, platzt es aus ihr heraus.
„Wieso bist du da so sicher? Hat er sich je einem psychologischen Screening unterzogen?“, streue ich Salz in ihre Mutterwunde.
„Dann müssten wir dich ja auch testen lassen oder hältst du das für normal, dass du vor allem Angst hast und in allem Angriffe auf dich selbst witterst, was übrigens ein eindeutiges Zeichen für Schizophrenie ist.“
Autsch. Das hat gesessen. Agateophobia: Angst vor Geisteskrankheiten .
Hat sie mich eben einen abnormalen, schizophrenen Phobiker genannt? Ins Gesicht.
Na ja, wurde aber auch Zeit.
„Wo hast du das her? Aus der Vogue ?“, gehe ich in die Offensive, um darüber hinwegzutäuschen, dass sie damit hinkommen könnte. „Ich kann mich ganz gut selbst diagnostizieren, Mum. Ich hab die Fachliteratur beinahe durch. In Sachen Angstforschung gibt es da den ‚ schizoiden ‘, den ‚ depressiven ‘, den ‚ zwanghaften ‘ und den ‚ hysterischen ‘ Persönlichkeitstypus – ist zumindest die einhellige Meinung der führenden Psychoanalytiker. Ich weise wohl alle Typen auf einmal auf, was äußerst selten ist. Hast du gewusst, dass in der Experimentalpsychologie …“ „Du hast ab sofort E-Book-Verbot“, unterbricht sie mich.
Das sagt sie immer, zieht es aber nie durch.
„Einen Forscher soll man nicht aufhalten“, trällere ich frech.
„Wie wärs, wenn der Forscher in dir mal zur Abwechslung seine Nase in die Schulbücher stecken würde, anstatt sich ausschließlich mit sich selbst zu beschäftigen“, wendet sie das Blatt und eröffnet unser drittes Lieblings-Streitthema: Schule.
Didaskaleinophobie: Angst vor der Schule. Die hat aber wohl jeder irgendwie.
„Der Stoff interessiert mich nicht.“ Außerdem macht er mir Angst.
„Das sehe ich an deinen Noten.“ Ja, die sprechen wohl für mich. „Ist das der Grund, warum du das Referat über das altertümliche Rom nicht vor den Ferien abgegeben hast?“
Jetzt liegt sie mir damit schon wieder in den Ohren. „Ich habs doch hochgeladen“, verteidige ich mich.
„Das sollte aber ein Video werden, in dem du es selbst vorträgst, kein Manuskript.“ Ich filme mich doch nicht selbst.
Womöglich raubt mir das die Seele.
Ich besuche die High-School von zuhause aus sozusagen im Fernstudium übers Internet. Den Stoff pauke ich aus E-Books oder aus dem Netz.
Bibliophobie: Angst vor Büchern .
Ich muss was tun, sie ist schon wieder viel zu sehr auf mich fixiert, obwohl doch mein Bruder gerade in ihrem Hauptaugenmerk stehen sollte.
„Wie weit bist du damit?“, ignoriert sie mich. „Erst dann wird dein Lehrer deine Gesamtnote in Geschichte von einem F auf ein D korrigieren. Und das auch nur, weil ich ihn weichgeklopft habe.“
Da hält sie mir bestimmt noch Jahre vor. Von wegen, ich hätte die Aufgabe falsch verstanden. Das war Absicht.
„Dieses Schulsystem ist sowieso dem Untergang geweiht“, prophezeie ich ihr.
„Dann ist es ja gut, dass du nach diesem Jahr abgehst und das Schulsystem wechselst“, würgt sie mir rein.
Das glaubt aber auch nur sie.
Ich muss schnell das Thema wechseln , bevor wir das mit dem Schulwechsel erneut durchkauen.
„Wie sahen denn Charlys Referate aus?“, frage ich scheinheilig. Irgendwie kontraproduktiv, wenn man nicht spricht – oder sonst kommuniziert.
Meine Mum sieht kurz ertappt aus, als wär sie sich darüber im Klaren, dass hier was total schiefläuft, nur um im nächsten Moment fortzufahren: „Das Video wäre zudem eine gute Gelegenheit, diese alberne Maskerade abzulegen. Zur Abwechslung wäre es ganz schön, meine Tochter auch mal zu Gesicht zu bekommen. Wann ich dich das letzte Mal unverschleiert gesehen habe, weiß ich gar nicht mehr.“
Das zeigt wieder, wie weit wir voneinander entfernt sind. Das ist keine alberne Maskerade , sondern ein Schutzanzug. Das wird sie nie verstehen, also mache ich mir gar nicht mehr die Mühe, es ihr zu erklären.
„Das geht nicht“, antworte ich knapp angebunden.
„Wieso nicht?“
„Weil es nicht geht.“
Das wär so, als würde ich schützende Mauern einreißen.
„War das der Grund, warum du im Zimmer deines Bruders gestöbert hast? Wolltest du nach seinen alten Schulsachen sehen?“, zieht sie sich gerade an den Haaren herbei.
Um was zu finden? Ein Video über das altertümliche Rom mit ihm als Protagonisten, das ich kopieren kann? Mein Bruder hat sich nicht plötzlich durch ein traumatisches Ereignis verändert – er war nie anders.
Übrigens noch ein Faktor, der für meine Autismus-Hypothese spricht.
„Was, wenn wir das bei dir tun würden?“, fordert sie mich heraus. Damit versucht sie die Kurve zu kratzen und davon abzulenken, dass ihr heißgeliebter Sohn doch der Abnormere von uns beiden sein könnte. Dem unangefochtenen Platz eins bin ich mir – zumindest aus ihrer Sicht – sicher.
Erschreckenderweise nehmen unsere Diskussionen immer denselben Lauf. Ich will ihr Augenmerk darauf lenken, dass ich hier nicht die einzige Durchgeknallte unter diesem Dach bin und sie bremst mich mit dieser „ Wie würdest du dich fühlen “-Haltung aus, was ich wiederum mit der „ Du hast ihn mehr lieb als mich “- Masche kontere, bis sie ihre Eltern-Karte zieht und mich mit Rot vom Platz fegt.
Es ist eine Sackgasse, in die wir uns immer reinmanövrieren.
Ich ziehe eine Schnute. Mein „Und ich dachte, du wärst zur Abwechslung mal stolz auf mich“ klang wenig überzeugend.
Meine Mutter bläst ihre Wangen auf und presst die Luft lautstark raus.
Blennophobie: Angst vor Schleim .
„ Stolz? “, krächzt sie. „Worauf denn genau?“
Mein „Ich habe deinen Rat befolgt“, soll ihr ein schlechtes Gewissen machen.
„Aha“, kommentiert sie meine Worte skeptisch.
„Ich habe meine Angst überwunden und bin durch den Schilderwald in die übelriechende Hölle eingedrungen.“
„Ich verstehe nur Bahnhof.“
„Charlys Zimmer. Ich bin da rein. Im Schweiße meines Angesichts habe ich widrigsten Bedingungen getrotzt.“ Einige Sekunden warte ich auf ihre Lobeshymne, doch sie kommt nicht.
Die kommt nie.
Meine Mutter zieht besserwisserisch die Augenbrauen hoch. „Weißt du, worauf ich wirklich stolz wäre?“ Jetzt lenkt sie schon wieder vom Kernthema „Bruder“ ab.
„Worauf denn?“, entgegne ich herausgefordert.
„Wenn du mal einen Fuß vor die Tür setzen würdest.“ Und da ist es wieder. Sie braucht immer nur einen klitzekleinen Satz, um mir den Wind aber sowas von gewaltig aus den Segeln zu nehmen und damit unser Lieblings-Streitthema Nummer vier einzuleiten: Die Tür und alles, was sich dahinter befindet.
Ich weiß natürlich genau, von welcher Tür sie spricht. Die Eingangstür unseres Hauses. Die Eingangstüre ist böse. Sehr böse.
Gewissermaßen hab ich unser Haus noch nie zuvor verlassen. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
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