1 ...8 9 10 12 13 14 ...42 Der Gedanke erschreckt mich kurz. Jeder geht nach draußen. Jeder. Außer ich.
Ich bin anders.
Na ja, irgendwie muss ich ja hier reingekommen sein, also war ich definitiv schon draußen. Glaub ich.
Mum hat mir erzählt, ich hätte als Baby immer wie am Spieß geschrien, wenn sie nur in die Nähe der Tür gekommen ist, da hat sie es irgendwann mal aufgegeben und ist mit mir im Haus geblieben.
Der kurze Blick auf die Nachrichten im Fernsehen reicht meist aus, um mich in mein kleines, steriles Refugium zurückzuziehen, wo ich mich in Sicherheit wiegen kann.
Alles da draußen macht mir auf die eine oder andere Art und Weise Angst. Die Kriminalität, Kriege, andere Menschen, ungeregelter Straßenverkehr – einfach alles.
Die geistige Aufzählung reicht bereit aus, um mich wieder in einen aufwallenden, durch die Substanz des Inhalators, die sich noch in meinem Blutkreislauf befindet, abgeflauten Angstschub zurück zu katapultieren.
Wieso schafft sie es eigentlich immer, das Ruder so rumzureißen, sodass ich am Ende dastehe wie ein nacktes, lurchartiges Etwas, das am liebsten heulend das Weite suchen will?
Batrachophobie: Angst vor Amphibien .
Ich schlucke eingeschüchtert. „Das geht nicht.“
„Wieso nicht?“, stellt sie mich zur Rede und stemmt dabei die Hände in die Hüfte.
„Weil es das Draußen ist.“
Das Draußen ist böse.
Das wär wie Fensteraufmachen – nur krasser.
„Gut, wenn du nicht lernst, dann könntest du doch zur Abwechslung mal arbeiten“, schlägt sie doch tatsächlich vor.
„ Arbeiten? “, krächze ich.
Okay, das ist neu.
„Ja, einen Ferienjob.“
Sie hat sie nicht mehr alle. Es ist ja eine Sache, wenn sie mich ignoriert, aber meine Ängste sind unignorierbar.
Mum stößt Dad den Ellbogen in die Seite. „Sagst du dazu auch mal etwas?“
Dad schreckt hoch, so als hätte er bis jetzt mit offenen Augen weitergeschlafen. „Klingt gut“, prustet er ertappt.
Er hat keine Ahnung, worüber wir reden, so viel steht fest. „Ich habe gerade vorgeschlagen, dass sich Mary einen Ferienjob suchen soll“, bringt ihn Mum auf den neuesten Stand.
„Die suchen bestimmt eine Reinigungskraft fürs städtische Aquarium mit Tauchschein fürs Haifischbecken. Das passt doch wie die Faust aufs Auge“, spottet Dad.
„Du könntest damit dein Taschengeld aufpeppen“, ignoriert Mum Dads Späße wiedermal.
„Was denn bitteschön aufpeppen? Ich hab noch nie einen Cent Taschengeld von euch gesehen“, wende ich ein.
Wozu auch? Es bot sich mir noch keine Gelegenheit, Geld auszugeben.
Mum und Dad sehen sich beinahe ertappt an. Daraufhin zückt Dad seine Brieftasche vom Küchentresen, angelt einen Geldschein heraus und streckt ihn mir mit den Worten: „Das holen wir gleich nach. Hier hast du einen Dollar“ entgegen.
Und wieder einmal muss ich mitansehen, wie die Entwicklungsarbeit, die ich in diesem Haus seit Jahren leiste, für die Katz war. „Dad, hast du gewusst, dass Geldscheine bis zu 3000 unterschiedliche Bakterientypen besiedeln können? Du steckst doch immer deine Brieftasche in deine Hosentasche. Damit erwärmst du sie auf Körpertemperatur, was sie als Petrischale fungieren lässt. Ein idealer Nährboden unter anderem für E.coli -Bakterien. Wenn du also die Ein-Dollar-Note anfasst, wärs so als würdest du mit der Hand eine Toilettenbrille abstreifen. Wenn du dir hinterher mit dem Fingernagel in den Zahnzwischenräumen rumstocherst, wie du es gerade eben getan hast, wärs so, als würdest du mit der Zunge einen Toilettensitz ablecken.“
„Erinnere mich daran, dein Ärztezeitschriftenabo zu kündigen“, droht Mum.
„Ich hab ein Ärztezeitschriftenabo?“, hinterfragt Dad.
„Das hab ich aus dem Wallstreet Journal“, kläre ich sie auf.
„Jetzt macht sie mir Angst“, verarscht mich Dad. „Mum hat recht. Du bist offensichtlich heillos unterbeschäftigt, wenn du schon zu so solch einer Lektüre greifst. Wieso hilfst du deiner Mutter nicht ein bisschen im Haushalt?“
Meinem hocherfreuten „ Ja “ setzt Mum ein abwehrendes „ Nein “ hinterher, das sie mit äußerster Vehemenz ausgestoßen hat.
„Dann könnten wir endlich meinen Hygieneplan umsetzen, der da drüben auf dem Regal verstaubt“, schlage ich vor.
„Vergiss es“, blockt sie ab. Die Umsetzung ist ihr wohl zu radikal. „Früher oder später musst du dieses Haus verlassen“, droht sie mir, um mich ganz schnell wieder von der Idee abzubringen und lenkt unsere Diskussion wieder gekonnt auf unser viertes Streit-Lieblingsthema um: Meinen Hintern durch die Tür aus diesem Haus zu befördern.
Wie macht sie das nur immer?
Mein „Dann entscheide ich mich für das Nie“ scheint ihr nicht zu gefallen. Dann passt es doch gut, wenn ich die Frage „Was arbeitet denn Charly?“ einwerfe.
Da! Da wars schon wieder. Dieser Blick, den sie an Dad richtet. Mein Bruder ist arbeitslos, aber bei ihm ist das okay.
Meine Mum seufzt schlapp und wendet sich ab. „Ich dachte, die betreuungsintensiven, schlaflosen Nächte mit dir hätten wir hinter uns, als wir die Möbel aus deinem Zimmer entsorgt haben. Aber scheinbar hab ich mich da geirrt.“
Hey, das waren viel zu viele potenzielle Verstecke für Monster – und Keime.
„ Du gehst ja nicht ans Babyfon, wenn man nach dir ruft “, platzt mir der Kragen. Eigentlich ist sie an allem schuld.
„Babys haben Babyfone. Du bist fast sechzehn Jahre alt! Und auch zu alt, um auf deinen Bruder eifersüchtig zu sein.“
Quatsch, dafür ist man nie zu alt.
„Aber das war ein Notfall.“
„Deine ‚ Notfälle ‘ kennen wir ja bereits“, versucht sie alles zu beschwichtigen.
„Was, wenn mich eine Scelerophobie dahingerafft hätte.“
„Ich hab keine Ahnung, was das schon wieder ist, aber ich bin sicher, es ist harmlos“, speist sie mich ab.
„Es ist die Angst vor Einbrechern. Steht auf deiner Liste. Hab ich vor ein paar Jahren entdeckt, als einer an meine Fensterscheibe geklopft hat“, motze ich.
„Das war ein Ast, den der Sturm vom Baum gerissen hat.“ Dendrophobie: Angst vor Bäumen .
Ja, gut, wars halt ein Ast.
„Das war Charly. Ich hab genau gesehen, wie er am Vortag auf den Baum geklettert ist, nur um mich durchs Fenster zu erschrecken. Sicher hat er den Ast bei der Gelegenheit angesägt.“
Sie hat diesen „ Ja, sicher. Jetzt sind wieder alle anderen schuld “-Blick drauf, den ich nur zu allzu gut kenne.
„Siehst du, hättet ihr das Loch – nach meinen Umbauplänen – zugemauert, wär das alles gar nicht passiert“, belehre ich sie und eröffne damit unser Lieblings-Streitthema Nummer fünf.
„Zum hundertsten Mal. Wir mauern dein Fenster nicht zu. Dein Zimmer ist in seinem jetzigen Zustand schon alles andere als ...“ „Normal“, ergänze ich ihre Worte. „Kindgerecht“, verbessert sie mich und verpasst mir einen erneuten Hieb mit der Anspielung.
„Das Fenster erfüllt keinen Zweck, außer dass es zu einer Kältebrücke und einem Schwachpunkt der gesamten Außenkonstruktion werden kann.“
„Das Fenster bleibt“, besteht sie felsenfest.
„Es ist viel zu groß.“
„Das war Absicht“, argumentiert sie.
„Wozu ein Fenster für jemanden, der den Anblick der Außenwelt kaum erträgt, frage ich mich?“
„Dafür sitzt du aber recht oft am Fensterbrett und starrst in die Ferne“, entlarvt sie mich.
„ Woher weißt du das? “, schnaube ich aufgebracht. „Beobachtest du mich etwa?“ Da tritt mein Verfolgungswahn an die Oberfläche. Womöglich hat sie in meinem Zimmer Kameras installiert.
Mit ihrer Erklärung „Das war geraten“, hat sie mich voll in eine Falle tappen lassen. „Der Platz an einem Fenster hat auch für mich etwas Anziehendes an sich.“ Sucht sie jetzt nach unseren Gemeinsamkeiten oder was?
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