Marie Lu Pera
Perfekte Trugbilder
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Inhaltsverzeichnis
Titel Marie Lu Pera Perfekte Trugbilder Dieses ebook wurde erstellt bei
Verrat trägt viele Gesichter
Da warens nur noch drei
Da warens nur noch zwei
Eine neue Spielfigur ist am Zug
Da war es nur noch eine
Wenn die Puppe zu spielen beginnt
Die Falle schnappt zu
Nichts weiter als eine leere Hülle
Eine aus vier
Perfektes Trugbild
Impressum neobooks
Verrat trägt viele Gesichter
„Nebukadneza?“ Mein Blick schwenkt zum Ursprung der Stimme. Der Hauptmann, ein Riese von einem Mann, schreitet auf mich zu. Zahlreiche Narben zieren seine Arme und seinen blank rasierten Schädel.
Einige Sekunden scheint es so, als verliere er sich in meinen Zügen. Das passiert ständig. Man sagte mir, es sei die Symmetrie meines Gesichtes, die einen kurzen Bann auslöst.
Es ist mir unangenehm und wenn ich es könnte, würde ich einen anderen Körper wählen.
„Hauptmann“, grüße ich ihn. Meine Worte holen ihn aus seiner Trance.
„Die neuen Rekruten sind eingetroffen“, erklärt er. Dabei lässt er seinen Blick über meinen Körper schweifen. Beginnend beim Ansatz meines schwarzen Haares, über meinen, an meiner Schulter herabhängenden, Zopf, der mir bis zur Hüfte reicht, zu meiner Brust, zwischen dessen Rundungen sich eine schwarze Kette windet, bis hin zu meinem schwarzen, enganliegenden Kleid. Obwohl er sehr diskret vorgeht, habe ich es dennoch bemerkt.
Ich bin perfekt – das sagen sie zumindest. Perfekte Maße, perfekte Proportionen, perfekte Symmetrie. Für mich ist es eine Hülle – nichts weiter.
Wie es in mir aussieht, vermag niemand zu erkennen. Sie sagen, ich bin privilegiert – gesegnet mit diesem engelsgleichen Gesicht, dem Körper, der jeden Mann um den Verstand bringt und dieser Gabe, Dinge bei Berührung zu sehen. Für mich ist es ein Fluch, der mich zu dem macht, was ich bin. Eine leere Hülle.
Ich bin eine der vier „Auserwählten“, die in der Akademie für den Harem des Königs ausgebildet werden. Kein anderer Mann darf mich berühren. Wir absolvieren gemeinsam spezielle Zusatzunterrichtseinheiten, die uns auf ein Leben im Dienste des Königs vorbereiten sollen.
Wenn mich jemand fragen würde, ob ich diese Zukunft für mich gewählt hätte, würde ich es verneinen. Der König hat hundert Frauen, die in seinem Harem leben. Ich bin ihm nie begegnet, aber er soll alt sein. Mein Körper ist mein eigenes kleines Gefängnis. Meine Hülle nimmt mir die Freiheit, selbst über meine Zukunft zu bestimmen.
„Habt Ihr die Neuigkeiten bereits vernommen?“, will der Hauptmann wissen.
„Ja“, antworte ich.
Es gibt zwei Akademien. Eine für weibliche und eine Militärakademie für männliche Rekruten. Man hat entschieden, sie zusammenzulegen. Auslöser war eine Reihe mysteriöser Angriffe auf die Einrichtung der weiblichen Rekruten.
Dabei wurde eine der Frauen auf brutale Art und Weise angegriffen. Genaugenommen handelt es sich bei der Rekrutin um eine Auserwählte.
„Ihr müsst erleichtert sein“, mutmaßt er. Ich weiß es nicht. Bis jetzt muss ich nur die Blicke der Frauen ertragen. Neid und Hass sind darin gleichermaßen verwoben und die wenigen, die zu den Auserwählten gehören, betrachten einander als absolute Konkurrenz.
Die „Nicht-Auserwählten“ wissen gar nicht, welches Glück sie haben, selbst über ihren Körper und ihre Zukunft bestimmen zu können. Ich würde jederzeit mit einer von ihnen tauschen, hätte ich die Möglichkeit.
Wenn nun die männlichen Rekruten mit uns zusammen studieren, wird es nicht gerade einfacher werden. Natürlich bin ich froh, dass wir unter ihrem Schutz stehen, also nicke ich und bestätige somit die Mutmaßung des Hauptmanns.
„Ich habe entschieden, dass jeder Auserwählten ein eigener Rekrut als Personenschutz zugeteilt wird“, verlautbart er. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein weiterer Starrer, der mich auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der Hauptmann tritt näher an mich heran, als wolle er mir etwas sagen, das nur für meine Ohren bestimmt ist. „Ich lasse nicht zu, dass so etwas noch einmal passiert.“ Damit meint er Louisa, die Auserwählte, die angegriffen wurde.
Das soll mir anscheinend die Angst nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, was ich fühlen soll. Seit geraumer Zeit herrscht in mir ein stetes Chaos. Es ist dieser Zwiespalt. Einerseits komme ich mir undankbar vor, weil ich, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, ein sehr gutes Leben führe. Die Armut in den Randbezirken ist allgegenwärtig. Auch, wenn sie die Informationen darüber vertuschen, weiß ich, dass es der Wahrheit entspricht. Andererseits hätte ich dieses Leben nie für mich gewählt.
Ich glaube, ich würde es vorziehen, frei und arm, anstatt in diesem goldenen Käfig gefangen zu sein. Obwohl ich nicht genau weiß, was es bedeutet, hungrig zu sein oder kein Dach über dem Kopf zu haben. Beide Leben machen mir irgendwie Angst.
Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir. Wieso beschleicht mich aber dennoch das Gefühl, bereits alles hinter mir zu haben?
Meine Zukunft ist gesichert – das sagen sie mir andauernd. Wenn ich die Akademie abgeschlossen habe, stehe ich dem König zur Verfügung. Ich muss mich um nichts sorgen. Er entscheidet, wann und wie ich ihm dienen soll. Manchmal sprechen einige der Auserwählten darüber. Sie schwärmen von diesem Leben im Palast.
Ich kann ihre Euphorie nicht teilen. Wer will schon sein gesamtes Leben vorherbestimmt wissen? Ohne Überraschungen, ohne Perspektiven, ohne freien Willen. Ich will niemandem vollkommen ausgeliefert sein – schon gar nicht einem König, der mich als sein persönliches Eigentum betrachtet.
„Nebukadneza?“, tastet der Hauptmann an. Ich war wohl kurz in Gedanken versunken. „Ist alles in Ordnung?“
Nein. „Ja.“
„Es ist Zeit.“ Der Hauptmann weist mir mit einer galanten Geste den Weg zu den Trainingshallen der Militärakademie. Wäre ich nicht auserwählt, würde er mir seinen Arm darbieten und mich dorthin geleiten, aber er darf mich nicht berühren. Dies ist ausschließlich dem König vorbehalten.
In der weitläufigen Halle betreten wir eine Warte, von der aus man den gesamten Innenbereich überblickt. Geschätzte hundert Rekruten stehen in Reih und Glied.
Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Der Verschlag, der die Warte vor fremden Blicken abschottet, verhüllt unsere Gestalten. Sie vermögen nur zu erahnen, dass sie bereits beobachtet werden.
Ich schlage die Kapuze meines Umhangs über mein Haupt und verstecke mein Haar darunter. Mit einem schwarzen Spitzentuch verhülle ich mein Gesicht.
Die Rekruten bekommen kaum Frauen zu Gesicht – diese Verkleidung verhindert, dass ich zu viel Aufsehen errege. Als ob das etwas nützen würde. Außerdem wird sich das ja schon bald ändern, wenn wir uns von nun an die Hörsäle teilen.
Viele von ihnen kommen aus aller Herren Länder des Mauretanischen Reiches. Es ist Pflicht, dass jeder Rekrut für die fünfjährige Ausbildungszeit ausschließlich in der Akademie lebt.
Die Aufnahmetests sind hart. Nur die besten Krieger, die den körperlichen und geistigen Anforderungen gerecht werden, schaffen es in die Ausbildung. Die besten Absolventen werden alle ausnahmslos in die königliche Garde aufgenommen.
„Seid Ihr bereit?“, fragt mich der Hauptmann. Ich nicke bestätigend.
Eine Treppe führt zur untersten Ebene. Jemand brüllt: „STILLGESTANDEN!“, worauf die jungen Männer Haltung annehmen.
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