Mit pochendem Herzen streiche ich über seine raue, kalte Brust und trete zurück.
Der Hauptmann und ich haben eine stille Vereinbarung. Sollte ich einen Verräter unter ihnen entlarven, bitte ich ihn um eine Pause, was ich in dem Moment auch tue.
„Hauptmann, der Rekrut ist der letzte Mann in dieser Reihe, darf ich Euch um eine Pause bitten?“
Der Hauptmann nickt leicht und kommt auf mich zu.
Gerade als ich ihm entgegengehen will, tritt der Verräter aus der Reihe und zieht mich grob an sich. Mir bleibt fast das Herz stehen.
Ein kollektives Lufteinziehen geht durch die Reihen. Der Loraner hat mir gerade das Tuch vom Haupt gerissen und ein Messer gezogen, das er mir, mich von hinten umklammernd, an den Hals drückt.
Das ging alles so schnell, ich bin wie erstarrt. Seine Berührung ist mir unangenehm. Er presst mich an sich und zerrt mich rückwärts vor sich her, als wäre ich sein lebendiges Schild.
Der Hauptmann und die Ausbildner haben synchron ihre Waffen gezogen und befehlen den Rekruten, sich nicht zu rühren.
Die Stimme des Hauptmanns reißt mich aus meiner Trance. „Nebukadneza, seht mich an. Er wird Euch nichts tun. So dumm ist er nicht.“
Im nächsten Augenblick spricht der Hauptmann zu dem Verräter. „Sie ist eine der Auserwählten und gehört dem König. Niemand darf sie berühren. Was glaubst du, was er mit dir machen wird, wenn er erfährt, dass du ihr ein Messer an die Kehle hältst. Seine Garde findet dich überall. Lass sie los oder du bist des Todes.“
Der Atem meines Peinigers geht stoßweise. Wir haben die Türe, die aus der Halle führt, beinahe erreicht, da brüllt er: „Sie wird ein Geschenk an den wahren König. Er wird ihr zeigen, was ein Kelte mit einer Mauretanischen Hure macht. Es lebe König Sacharius.“ Seine Worte machen mir unsagbare Angst.
Plötzlich ertönt ein Knacken hinter mir, das mir durch Mark und Bein geht. Im nächsten Augenblick bin ich frei.
Panisch drehe ich mich um und erkenne den Arkadier, der den leblosen Körper des Loraners am Kopf festhält. Er hat ihm das Genick gebrochen. Als er ihn loslässt, fällt sein Leib wie ein nasser Sack zu Boden. Aurelion sieht fast belustigt aus, als er mich anstarrt. Labt er sich etwa gerade an meiner Angst? Mein Atem ertönt unnatürlich laut in meinen Ohren.
Bei vielen Morden war ich bisher Zeuge, doch nur in meinen Visionen – nie war ich selbst dabei. Diesmal ist es real. Dementsprechend zittern meine Beine auch bei der Erkenntnis, wie knapp ich einer Entführung ins gegnerische Reich entkommen bin.
Ich habe keine Zeit, die kurze Geiselnahme zu verarbeiten, denn der Hauptmann ist bereits an meiner Seite und tritt vor mich, damit mir der Blick auf den Leichnam, den ich panisch fixiert habe, verwehrt wird.
„Nebukadneza, seid Ihr verletzt?“ Meine Hand überprüft die Stelle an meinem Hals, an der sich bis vor Kurzem das Messer befand.
„Nein.“ Ich schüttle den Kopf, da nur wenig Blut an meiner Hand zu erkennen ist, doch das reicht dem Hauptmann nicht.
Er kommt auf mich zu und betrachtet die Verletzung aus nächster Nähe. „Nur ein Kratzer“, stößt er vollkommen erleichtert aus. Dabei sorgt er sich nicht um mich, er sieht nur das Eigentum des Königs, das keinen Schaden genommen hat. Die Hure, die ihm zu Diensten sein wird.
„Ich bringe Euch zu einem Arzt“, informiert er mich, doch ich winke ab.
„Nein. Lasst uns weitermachen.“ Ich bin verärgert, da er nur an meiner Hülle interessiert ist und will ihm aus dem Weg gehen. Ganz sicher wird er mich zum Arzt eskortieren und ich weiß nicht, ob ich meine Wut vollständig verbergen kann.
Ich bin ganz schön durch den Wind, doch ich zeige meine Furcht nicht und trete erneut an die Rekruten heran.
Mein Verhalten macht mir selbst Angst. Bin ich etwa schon abgestumpft? Haben mich die zahlreichen Morde, deren Zeuge ich im Geiste war, emotional verkümmern lassen? Vermag meine Hülle noch mein hässliches Inneres zu verbergen?
Nach ein paar Stunden habe ich jeden jungen Soldaten in dem Raum überprüft. Unter den restlichen Männern war kein Attentäter mehr.
Ich berichte dem Hauptmann noch, was den Loraner verraten hat, bevor ich aufstehe und die Warte verlassen will.
„Nebukadneza“, hält mich der Hauptmann zurück. „Bitte bleibt doch noch einen Moment.“ Ich weiß bereits, was er jetzt verlangen wird.
„Die Antwort lautet nein, Hauptmann“, verkünde ich, während ich aus der Warte starre.
„Ich hatte noch gar keine Frage gestellt“, erwidert er.
„Ihr wolltet mich bitten, Informationen über eure Rekruten preiszugeben – Geheimnisse, die ich gesehen habe.“ Manchmal sehe ich Dinge, die für niemanden anderen als für dessen Träger bestimmt sind. Meistens, wenn meine Konzentration nachlässt und ich mich in den Bildern verliere. Manchmal bin ich auch einfach neugierig und sehe Dinge, die mich nichts angehen. Das weiß der Hauptmann, denn er benutzt meine Fähigkeiten oft für die Verhöre inhaftierter Feinde des Königs.
„Nein“, erklärt er. „Ihr habt bereits mehr als deutlich bekundet, dass Ihr über diese Dinge Stillschweigen bewahrt – es sei denn, sie seien von Bedeutung. Ich kenne und respektiere Eure Grundsätze.“ Überrascht drehe ich mich zu ihm um.
„Dann stellt Eure Frage, Hauptmann“, verlange ich.
„Was habt Ihr gesehen, als Euch der Rekrut das Messer an den Hals gehalten hat? Ihr habt ihn doch an der Hand berührt“, stößt er neugierig aus.
„Nicht das, was ich sehen wollte. Meine Panik ließ keine Vision von Bedeutung zu“, gestehe ich.
Er nickt. Daraufhin erkläre ich: „Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet.“
„Natürlich“, entlässt er mich.
Auf dem Weg nach draußen erkenne ich den Arkadier, der unter Aufsicht Klimmzüge an einer Stange absolviert. Das ist wohl seine Strafe, da er sich den Befehlen des Hauptmanns widersetzt hat. Er hätte nicht aus der Reihe treten dürfen.
Ich bin froh, dass er es dennoch getan hat. Die Kelten gelten als grausames Volk. Ihrem König in die Hände zu fallen, würde mein Todesurteil bedeuten. Was eine Erlösung wäre, nachdem sie mir, wie von dem Verräter angekündigt, gezeigt hätten, was sie mit einer Mauretanischen Hure machen.
Als mich Aurelion erblickt, fixiert er mich erneut mit seinem bohrenden Blick. Ich scheine ihn zu amüsieren. Wieder erkenne ich nur zu deutlich die Belustigung in seinem Blick, mit der er mich zu verhöhnen scheint. Was für ein unverschämter Troll. Ich hoffe, der Aufseher lässt ihn noch lange hier hängen.
In meinen Gemächern erwartet mich bereits eine Box. Wie so oft, schickt mir der König Gegenstände, die ich untersuchen soll. Es handelt sich meist um alltägliche Dinge, die jemand berührt hat, den er ausspionieren will.
Da ich ihm gehöre, habe ich keine Wahl, als zu tun, was von mir verlangt wird. In dem Paket finde ich die obligate Liste vor.
Gegenstand Nr. 1: Eine Brosche – Wem gehörte sie ursprünglich?
Gegenstand Nr. 2: Ein Haar – Von wem stammt es?
Gegenstand Nr. 3: Eine Flasche – Wer hat die Flüssigkeit in das Gefäß gefüllt?
Zeit: bis morgen 7:00
Wie immer sind dies all seine Worte, die er für mich übrig hat. Kein Gruß, kein persönliches Wort – nicht einmal eine Unterschrift. Für ihn bin ich nur ein Diener, der Aufgaben erledigt. Nichts weiter.
Erschöpft lasse ich mich auf den Hocker meiner Schminkkommode fallen. Ich bin müde, aber die Zeit der Abgabe ist unumstößlich. Entweder ich gehorche ihm oder ich werde bestraft – so lautet das Gesetz.
Ich will mir gerade den ersten Gegenstand vornehmen, da klopft es an der Tür.
„Herein“, rufe ich und der Hauptmann betritt ein paar Sekunden später das Zimmer. Schnell erhebe ich mich. Er ist nicht allein. Zu meinem Ärgernis hat er den Arkadier im Schlepptau.
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