Louisa – eine blonde Göttin, die solch ein Funkeln in den Augen trägt, das jeden schlagartig gefangen nimmt – hat deutlich ihren Zauber eingebüßt. Sie starrt teilnahmslos in die Luft. Es scheint so, als habe sie den Angriff noch immer nicht überwunden.
Warte, gerade fällt mir auf, dass eine Auserwählte fehlt. Emma ist nirgendwo zu erkennen. Der Unterricht beginnt bereits, doch sie taucht nicht auf.
„Wen suchst du?“, will Aurelion wissen.
„Die vierte Auserwählte.“ Jetzt hat auch er die Suche aufgenommen. Wo ist sie nur? Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Sie ist sonst immer eine der Ersten im Unterricht.
Mir gefällt das nicht. Nach zehn Minuten erhebe ich mich und trete aus dem Saal.
Der Professor ruft mir ein „Nebukadneza. Ist alles in Ordnung?“ hinterher, das ich unbeantwortet lasse.
„Warte, wo willst du hin?“, fragt mich mein persönlicher Schatten, als er mir zurück zu dem Gebäude, in dem sich unsere Schlafgemächer befinden, hinterherdackelt.
„Ich will sehen, ob mit Emma alles in Ordnung ist“, informiere ich ihn.
„Sie hat sicher den Weckruf nicht gehört oder hat Frauenbeschwerden.“ Ja genau.
An ihrer Türe angekommen, klopfe ich laut.
„Emma. Öffne die Tür! Ich bin es, Nebukadneza.“ Sie meldet sich nicht, also drücke ich die Türklinke herunter, die verriegelt ist.
Ich überlege gerade, wo sie noch sein könnte, da erregt eine kleine, rote Feder meine Aufmerksamkeit, die am Türrahmen hängengeblieben ist. Es sieht so aus, als würde sie von einem Kleid oder Haarschmuck stammen.
Nachdem ich sie berühre, fluten tausend Bilder meinen Kopf. Als würde mich die Berührung verbrennen, ziehe ich reflexartig die Hand zurück und rufe: „Aurelion, mach die Tür auf, schnell!“ Mein Atem geht stoßweise.
„Sie ist verschlossen“, prustet er schulterzuckend.
Verärgert stoße ich ein „Tritt jetzt endlich die Tür ein. Wozu bist du breit wie ein Schrank?“ aus. Wieder zuckt er mit den Schultern, nimmt Anlauf und stemmt sich rammbockartig dagegen.
Polternd fällt sie aus den Angeln und grelles Sonnenlicht blendet meine Augen. Das Fenster steht offen. Unzählige rote Federn wirbeln durch die Lüfte, streifen dabei meine Wangen.
Emma liegt mit ausgebreiteten Armen auf dem Bett. Nackt. Jemand hat ihr die Eingeweide herausgerissen und ihr Blut im ganzen Raum verteilt. Die Federn stammen von keinem Kleid, sondern von ihrem zerrissenen Kissen. Sie sind blutdurchtränkt. Ihr feuerrotes Haar wurde auf dem Kissen wie eine Löwenmähne drapiert.
Ich bin wie erstarrt. Der grausame Anblick hält mich gefangen.
Aurelion stellt sich schützend vor mich und fordert: „Sieh mich an.“
Ich kann nicht atmen, daher sinke ich auf die Knie. Mein gequälter Laut hallt unnatürlich laut in meinem Kopf.
„Nebukadneza, sieh mich an.“ Ich schüttle den Kopf, sinke mit dem Oberkörper auf meine Oberschenkel und vergrabe meine Finger in meinem Haar.
„Ich kann dich nicht berühren, also steh auf, damit ich dich hier rausschaffen kann“, befiehlt er.
„Nein.“ Meine Stimme versagt, aber ich schaffe es dennoch aufzustehen.
Ich atme tief durch und umrunde Aurelion.
„Was hast du vor?“, will er wissen.
„Herausfinden, wer das war“, erkläre ich flüsternd.
„Nein.“ Er stellt sich mir wieder entgegen, doch ich stoße ihn weg. Blitzschnell baut er sich wieder vor mir auf, was mich an seine Brust prallen lässt.
„Geh mir aus dem Weg, Aurelion“, fordere ich.
„So etwas sollte niemand mitansehen müssen“, meint er.
„Aus dem Weg“, verlange ich energisch.
„Nein.“
„Bitte“, flehe ich. „Bald habe ich nicht mehr die Kraft dazu. Ich muss es tun und das weißt du auch.“
Er nickt halbherzig und tritt beiseite.
Vollkommen fertig falle ich vor Emmas Bett auf die Knie. Meine Tränen bahnen sich automatisch einen Weg über meine Wangen.
Mit zitternden Händen berühre ich ihre kühlen Wangen, aus denen jegliches Leben gewichen ist. Die Bilder des absoluten Grauens treten im nächsten Moment in mein Unterbewusstsein.
Ein maskierter Mann in rotem Mantel betritt das Zimmer und fällt über die schlafende Schönheit her. Gewaltsam teilt er ihre Schenkel mit einem Knie, stößt dabei immer wieder in die Frau, die so verängstigt ist, dass sie sich kaum zur Wehr setzt.
Der Anblick ist so schrecklich, dass ich mir die Seele aus dem Leib schreie. Krampfhaft versuche ich, die Vision abzubrechen, doch sie lässt mich nicht los. Erst ihre leblosen Augen geben mich frei.
„Nebukadneza!“
Ich erkenne Aurelion, der von den Männern des Hauptmanns festgehalten wird und den Hauptmann selbst, der mich angestrengt mustert. Aurelion hat sicher versucht, mich von dem leblosen Körper wegzuziehen.
Blut tropft auf die Federn, die den Marmorboden bedecken. Mein Blut, das sich mit meinen Tränen vermischt hat.
Mit den letzten Kräften erhebe ich mich. Der Hauptmann bewegt die Lippen, doch was er sagt, kann ich nicht verstehen, da mich die Dunkelheit bereits in ihre Tiefen zieht.
Ich öffne die Augen. Erst nach ein paar Versuchen bleiben sie offen und die verschwommenen Formen nehmen schön langsam Gestalt an.
„Wie fühlst du dich?“ Es ist Aurelion, der über mir auftaucht.
„Da warens nur noch drei“, hauche ich.
Er ist so perplex, dass er nichts erwidert. Ich setze mich auf und erkenne das Krankenzimmer.
„Wer hat mich berührt?“, flüstere ich atemlos.
„Der Hauptmann“, antwortet Aurelion. Dafür verhängt der König sicher die Folter über ihn.
„Hast du gesehen, wer es war?“, will Aurelion wissen.
Mein Blick wird gequält. Kopfschüttelnd gestehe ich: „Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Er war maskiert.“ Mein Blick wandert ins Leere.
Er trug dieselbe Maske wie der Mann, der Louisa angegriffen hat. Ich gehe davon aus, dass es sich um ein und denselben Täter handelt. Mit übermenschlicher Kraft versuche ich, meine Emotionen zu unterdrücken und steige aus dem Bett.
Ich bin zwar wacklig auf den Beinen, schaffe es aber dennoch, mich aufrecht zu halten.
„Nebukadneza. Warte. Du hast die ganze Zeit nur geschrien, ich …“ Er fährt sich ungestüm durchs Haar.
Ich halte inne und blicke ihn an. „Ich habe schon viele Morde mitangesehen, Aurelion.“ Ich schrecke zurück. Eigentlich wollte ich das nicht laut aussprechen. Es ist mir herausgerutscht.
Der Hauptmann reißt mich aus meinen Gedanken.
„Nebukadneza, kommt bitte mit mir. Rekrut, du bleibst hier.“
Stundenlang verhört mich der Hauptmann, bis ich jedes noch so belanglos erscheinende Detail meiner Vision des Mordes preisgegeben habe. Es war wie eine Folter, die unsichtbare Narben zurückgelassen hat.
Darüber hinaus bat er mich, Stillschweigen über den Mord zu bewahren, um keine Panik bei den Studentinnen auszulösen. Er hat die Information verbreiten lassen, Emma sei frühzeitig in den königlichen Harem gerufen worden.
Vor der Halle des Trainingslagers wartet bereits Aurelion. Er ist in ein Gespräch mit den anderen Rekruten vertieft.
Als er mich sieht, hält er inne. Wie er, laben sich auch alle anderen an meinem Gesicht. Ich fühle mich nackt und irgendwie emotional ausgehungert. Dementsprechend angewidert drehe ich mich um, damit ich mich von ihnen entfernen kann.
An der Brücke setze ich mich und lasse die Beine hinunterbaumeln. Mein Kopf ruht an einem der Pfeiler.
„Du warst über drei Stunden da drin“, stellt Aurelion hinter mir fest. Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, mich ihm zuzuwenden.
„Ich gehe meine Visionen wieder und wieder durch. Irgendetwas habe ich übersehen“, sage ich mehr zu mir als zu ihm.
„ Die Visionen? Du hast doch nur die eine von Emma“, erklärt er.
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