Mein „Wenn du nur aufhören würdest, jeden meiner Elefanten zu einer Mücke zu machen, würdest du mich zur Abwechslung mal verstehen“, war vorhersehbar.
Ihr „Du hast recht“, lässt mich erstaunt innehalten – zumindest bis sie ein vorwurfsvolles „Es ist alles unsere Schuld“ nachsetzt.
Im nächsten Moment erscheint so etwas wie Erleuchtung in ihren Zügen, die sie mit einem zutiefst neugierigen „Ist es etwa so weit? Ist Tante Rosa zu Besuch gekommen? Bist du deshalb so motzig?“ kundtut. Wieder eine ihrer „ Analogien “, die ich aus tiefstem Herzen verabscheue. Und erneut schafft sie es, mir mit voller Wucht in die Magengrube zu boxen.
„ Nein, Mum “, zische ich mit Blick auf die männliche Gesellschaft in diesem Raum – und leicht geröteten Wangen.
„ Tante Rosa “ ist ihr Sinnbild für meine bis jetzt ausbleibende Menstruation.
Sie sieht enttäuscht aus – mit diesem Hauch „ Das ist doch nicht normal .“
Keine Ahnung. Ich bin fast sechzehn und es tut sich nichts. Absolut gar nichts. Worüber ich unendlich froh bin.
Ich hasse Tante Rosa. Tante Rosa ist böse.
Natürlich weiß jeder in diesem Raum Bescheid. Ihr Versuch, es auf diese plumpe Art und Weise zu verschleiern, ist schon fast erbärmlich.
„Doktor Libberny freut sich schon so auf dich. Sie fragt immerzu nach dir.“ Ja bestimmt. Doktor Libberny ist leider keine imaginäre Verwandte – sie ist Mums Gynäkologin.
„Nur über meine Leiche“, stoße ich überlegen aus.
„Das haben wir gleich“, trällert Dad, der dazu übergegangen ist, in den Schränken nach Essbarem zu suchen.
Ärzte gehen schon mal aus Prinzip gar nicht. Ärzte sind böse. Außer Dad, er ist unausweichlich und gehört auch dieser Berufsgruppe an.
„Es wird der Tag kommen, an dem du wohl oder übel über deinen Schatten springen musst. Du wirst dieses Haus verlassen. Einen Arzt aufsuchen. Zur Schule gehen. Dich mit Freunden treffen. Einfach Leben. Und wenn ich dich geknebelt mit eigenen Händen da rauszerre. Ich schwöre dir …“
Mein Dad, der zwischen seinen Kommentaren recht schlaftrunken in Mums leere Tasse gestarrt hat, als würde er im Kaffeesatz lesen, legt seine Hand auf den Arm meiner Mutter, was sie abrupt innehalten lässt. Sein warmherziger Blick reicht aus, um sie zu besänftigen. Vielleicht setzt er aber auch Magie ein. Wer weiß das schon so genau?
Die Magie der Liebe womöglich. Ich kenne die Liebe nicht. Sie macht mir Angst, aber jeder liebt doch irgendjemanden oder irgendetwas.
Außer ich. Ich bin anders.
Außerdem kann mir das Leben gestohlen bleiben.
Ich ignoriere ihre Worte, nutze die Zeit, in der sie sich wortlos anstarren und dabei sicher liebäugeln, zur Vorbereitung auf das, was mir schon seit Wochen auf dem Herzen liegt, ich aber Angst hatte, es auszusprechen. Vielleicht ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen. Und nach heute Nacht fühl ich mich auch nicht mehr so unwohl dabei, es endlich loszuwerden.
Okay, jetzt oder nie.
Genau in dem Moment, in dem ich Mut fasse – gut „Mut“ ist das falsche Wort. „Mir einen Ruck geben“ triffts eher – wenden sich alle wie auf ein stilles Zeichen hin zum Gehen ab.
Mein „Wartet, ich“ hält sie nicht auf.
Sie haben wohl bereits genug von mir.
Entschlossen greife ich nach der Gabel, die hier noch vom Abendessen rumliegt, dem Wasserglas und hämmere dagegen, um sie aufzuhalten, was auch gelingt.
Die Beachtung meines Bruders ist mir nun auch sicher, als das Teil in tausend kleine Stücke zerbricht und mein zweites Lieblingsgefühl aktiviert: Scham. Angst und Scham gehen bei mir immer einher. Und da ist sie wieder, diese Hilflosigkeit und das Gefühl, sich nicht im Griff zu haben, das die Angst kurz zurückdrängt.
Aber nur kurz.
Sie kehrt immer wieder.
Alle Blicke im Raum sind nun auf mich gerichtet. Wie eine Bekloppte fixiere ich die heilen Reste des Wasserglases in meiner Hand, die mir mein Dad mit den Worten: „Ist nichts passiert. Die Splitter sind sauber“ beinahe in Zeitlupe aus der Hand nimmt.
Nelophobie: Angst vor Glas .
Das „ Darum geht’s doch gar nicht “, habe ich jetzt einen Tick zu gereizt ausgestoßen.
„Oooooookkkkkaaaaayyy. Da ist wohl jemand mit der falschen Phobie aufgestanden“, zieht er die falschen Schlüsse.
Das war nicht witzig.
Ein paar Züge aus meiner leeren Asthma-Pfeife und ein Räuspern hätten den aufwallenden Schub sicher gedämpft. So kucke ich nur dumm aus der Wäsche und atme die Gänsehaut weg.
Es funktioniert und ich finde meine Stimme wieder: „Eigentlich ist das ein ganz guter Anfang für das, was ich euch schon die ganze Zeit über sagen will, ich aber … Angst … hatte, es laut auszusprechen.“ Wie jämmerlich ist das denn?
Okay, reiß dich zusammen, du bist alles dreitausendzweihundertmal in Gedanken durchgegangen.
„Was immer es ist, es kann bis zum Klingeln meines Weckers warten“, will mich Mum aufhalten.
Ich atme tief durch. „Ich habe entschieden, weiter als Mensch leben zu wollen. Das heißt, ich will mit sechzehn nicht als Hexe getauft werden.“
Das Runterklappen ihrer Kinnladen wird durch das melodiöse Fallen des Kaffeelöffels meiner Mum untermauert. „So, jetzt ist es raus und bevor ihr gleich durchdreht, hab ich ein kleines Video vorbereitet, um eine Art Argumentationskette aufzubauen.“ Ich schnappe mir Mums Notebook vom Küchentresen, zücke meinen mitgebrachten USB-Stick, stecke ihn rein und drücke die Starttaste. Kurz flackert die Cyberphobie in mir auf, die ich erfolgreich zurückdrängen kann.
Das sind praktische Dinge, ohne die man aufgeschmissen ist, also muss ich wohl oder übel damit leben.
So wie mit meiner Familie.
„Das bin ich bei meinen ersten Vorstoß in die Welt des Spitzentanzes, zu dem mich Mum genötigt hat. Da war ich vier oder so“, kommentiere ich die bewegten Bilder der raren Videoaufzeichnungen, die von mir existieren. Die konnten sie nur machen, bis ich kapiert habe, wozu der schwarze Kasten da ist.
Ein winziges Mädchen, dessen Gesicht unter einem Geschirrtuch mit zwei ausgeschnittenen Löchern für die Augen, verborgen liegt, steht im zartrosa Tutu da und täuscht mit einem Bein eine Pirouette an.
Scheinbar erfasst sie in dem Moment eine Melissophobie, also die Angst vor Bienen. Nur so kann ich mir meinen recht eigenartigen Tanzstil erklären. Es ist eher eine Art Mix aus spastischen Lähmungserscheinungen und Fruchtbarkeitstanz.
„Meine ersten Versuche auf einer Geige“, erkläre ich, als man mich sieht, wie ich das rosa Plastikinstrument schrotte, das ich kreischend fallen ließ, da ich mich vor dem Ton erschrocken habe, der da rauskam. „Übrigens haben in dem Moment sicher Weichmacher meine Hautbarriere durchschritten, was mein Brustkrebsrisiko um 25 % erhöht hat. Pro Brust. Danke dafür.
Und das bin ich mit sechs. Bei der Aufzeichnung für die Video-Geburtstagsüberraschung für Onkel Junus. Seht ihr das rosa Etwas, das hinter dem rechten Bein von Dad Schutz sucht. Das bin ich im Prinzessinnenkostüm. Dafür hasse ich euch heute noch. Gut, dass ich in dem Alter noch nicht die genaue chemische Zusammensetzung von Polyester kannte.
Die ganz Aufmerksamen unter uns erkennen, dass ich – verborgen unter der Schmetterling-Glitzermaske – nur den Mund bewege, aber nichts dabei rauskommt. Nennt sich Playback. Der Burgfräuleinhut mit dem Schleier ist übrigens menschenrechtsverletzend. Sorry, Mum, deine zehn vorangegangenen Musikproben sind nicht auf fruchtbaren Boden getroffen.“
„Zumindest weißt du jetzt, was ein knallharter Drill ist“, macht sich Dad über mich lustig und kassiert einen bösen Blick von Mum.
„Das ist mein erster Kontakt mit einem Planschbecken“, mache ich weiter, „das ihr im Sommer im Wohnzimmer für mich aufgebaut habt. Da war ich zehn.“ Zu sehen ist ein vollkommen verstörtes, hysterisches, dürres Ding mit Schwimmflügeln und Rettungsring, das wie am Spieß brüllt, während Dad ein Quietschtier badet, um ihm damit das Wasser schmackhaft zu machen. „Danke nochmal, Dad, für den Schock meines Lebens. Seitdem hab ich übrigens Angst vor Rentieren.“
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