„Noch ein Grund, diesem Ort fernzubleiben.“ Nur Streber kennen den Direktor. „Und er hat einen Ehe mann “, soll ausschließen, ob ich mich nicht doch verhört habe.
„Ganz genau“, prustet Dad und richtet beide Zeigefinger augenzwinkernd auf mich. „Gut, in Sachen Musikalität und koordinierten Bewegungsabläufen kommst du wohl eher nach deinem Vater, Prinzessin“, versucht er die Wogen zu glätten. „Aber du hast viele andere Stärken.“
„Zum Beispiel“, fordere ich ihn heraus.
Er sieht ertappt aus, denkt kurz intensiv nach und präsentiert mir stolz seine Antwort: „Du kannst alle E-Nummern auf meiner Cornflakes-Packung übersetzen.“ Er hat recht. Ich kenne sie alle. „Zeig mir eine Fünfzehnjährige, die das kann. Dank dir weiß ich auch, dass Mäuse davon Tumore in ihren Schädeln bekommen, aber dafür kleben sie nicht zusammen. Wer will schon matschige Cornflakes, bevor man die Milch drüberkippt? Außerdem brauch ich in meinem Alter keine Vitamine mehr – bloß Konservierungsstoffe.“
„Alles, was du brauchst, ist ein bisschen Tanz- und Singunterricht und dann wirst du sehen, dass es dir dort gefällt. Du musst auch nicht unbedingt ein Instrument spielen“, schaltet sich Mum ein.
Ja, und dann wird alles gut.
„Ich interessier mich aber nicht für diesen Mädelskram. Meine Interessen sind etwas diffiziler“, raune ich.
„Oder beängstigender“, ergänzt Dad.
Ja, ich setze meine Energien lieber in die Angstforschung. Im stillen, sicheren Kämmerlein.
Wann geht das endlich in ihren Schädel rein?
„Wer weiß, vielleicht helfen dir ja die Kräfte, deine verborgenen Talente zu wecken“, ignoriert mich Mum schon wieder.
Verborgene Talente? Ich brauch einen anderen Körper, um so gut zu tanzen, wie meine Mum es kann. Sie hat sogar eine eigene Tanzschule aufgemacht.
„Wie habt ihr euch das überhaupt vorgestellt?“, stelle ich meine Eltern zur Rede. „Nur zu eurer Information, ich habe erst Ende Oktober Geburtstag. Genauer gesagt am 31. Der Tag, an dem ihr meine Kräfte wecken wollt.“ Zu Halloween, was ganz schön gruslig ist. Und total bizarr, dass der größte Angsthase an einem offiziellen Gruseltag geboren wird, an dem Leute reihenweise durch die Straßen ziehen, um anderen Angst einzujagen. „Das Semester beginnt aber doch schon Anfang September, also nächste Woche. Das heißt, ich bin noch ich selbst. Zumindest wenn eure Theorie stimmt und mich die Kräfte zur Tochter machen, die ihr nie hattet, was ich immer noch bezweifle. Soll ich etwa in meiner jetzigen Konstitution dahin? Ich war noch nie in einer richtigen Schule und das Zeug hilft nur kurze Phasen wie das Frühstück, Abendbrot oder Begegnungen mit euch zu überbrücken.“ Ich wedle mit meinem Inhalator vor ihren Nasen herum.
An ihren geschockten Gesichtern und Dads ungläubig, beinahe amüsiertem „Du hast Angst vor uns ? Ich meine, vor Mum hab ich auch Angst, aber ich bin doch die Philanthropie in Person“ erkenne ich, dass ich mich grad gewaltig verplappert habe.
Mum steht der Mund offen. Das hat sie schwer getroffen.
„Wieso überrascht euch das so? Ich hab doch vor allem Angst, das wisst ihr nicht erst seit gestern“, erkläre ich schulterzuckend.
„Ich bin deine Mutter“, prustet sie gekränkt.
„Ich hab keine Angst vor dir.“ Na ja, ein bisschen vielleicht. „Nur, na ja, vor gewissen Verhaltensweisen, die du manchmal an den Tag legst. Davor, wie du mich manchmal ansiehst. So als hättest du eine dunkle Vorahnung mich betreffend.“
Das lasse ich mal so im Raum stehen und komme zurück zum Thema. Mein „Was ist jetzt mit der Schule? So könnt ihr mich da nicht hinschicken, also lassen wir das lieber“, soll ein bisschen auf die Tränendrüse drücken.
Meine Eltern tauschen Blicke aus. Mums „Du wirst erst nach deinem Geburtstag eingeschult“, ist echt der Hammer.
„ Was? “, zische ich. „Das kann nicht euer Ernst sein.“
„Ich fürchte doch“, trällert Dad.
Sieht so aus, als wär er von meiner Mum überstimmt worden.
Angst steigt in mir hoch. Ich sehe das Püppchen, wie es nackt vor der Klasse steht und von allen als die „ Neue “ beäugt wird, die den Direktor vom anderen Ufer ‚ Onkel Junus ‘ nennt und jede Menge Privilegien genießt.
Unter anderem auch später mit der Schule zu starten.
Das Püppchen versucht, die Hände vor die viel zu klein geratenen, unterentwickelten Brüste zu schlagen, was jedoch im letzten Moment vom Puppenspieler verhindert wird, der als Professor mit quietschender Kreide ein „Mary Walker“ an die Tafel ritzt.
„ Die Gruppenbildung ist abgeschlossen. Du passt hier sowieso nicht rein. Das sieht man sofort. Du bist ein Freak. Du bist anders “, bläut er mir ein.
„Das könnt ihr mir nicht antun“, kam jetzt todernst über meine Lippen.
Das gibt meinen Eltern wohl zu denken, denn sie schweigen dazu – sehen sich nur ratlos an.
„Es ist die beste Lösung, ohne zu erklären, warum du … so bist“ „Wie du eben bist“, ergänzt mein Dad die Worte meiner Mum.
Ich bin anders. Niemand wagt es auszusprechen, aber jeder weiß es, der unter diesem Dach lebt.
„Und was wollt ihr sagen, warum ich später als alle anderen in die Schule komme?“, will ich wissen.
„Eine Grippe“, hat mein Dad seine Antwort schon parat.
„Eine Grippe, die über einen Monat dauert“, hinterfrage ich skeptisch.
„Ist halt ein schweres Kaliber“, stellt mein Dad fest. „Was gehst du auch im August bei dem Schneesturm raus zum Schaukeln.“ Das haben sie sich ja toll zurechtgelegt.
Okay, es hilft nichts. Meine Eltern lassen sich nicht von ihrem Kurs abbringen, also muss ich wohl oder übel meinen letzten Trumpf ausspielen: „Wieso muss Charly eigentlich nicht auf diese Schule gehen und ich schon?“
Mum geht gleich an die Decke, da versucht Dad zu retten, was noch zu retten ist: „Ich bin sicher, er geht auch hin, wenn du hingehst.“
Mums Kopf schießt zu Dad rüber. Eins ist klar, dieses brisante Detail hätte nie seinen Kopf über seinen Mund verlassen dürfen.
„Das heißt, er hat sich auch geweigert und war erfolgreich“, schließe ich daraus.
„Wir werden demnächst ein paar Veränderungen in deinem Leben vornehmen, ob du willst oder nicht.“
„Wenn du nichts mehr von uns hörst, warst du eine davon“, fügt Dad hinzu.
Und zack wird wieder alles vertuscht.
„ Ohne mich! “, stelle ich klar. „Keine zehn Pferde kriegen mich dahin. Ihr könnt mich nicht dazu zwingen. Und mir schon gar keine Kräfte gegen meinen Willen verpassen.“
„Das werden wir ja sehen“, meint Mum verheißungsvoll. Sie nimmt mir das Angstgeständnis bestimmt immer noch übel, obwohl das doch auf der Hand lag.
„Es ist viel zu früh, um solche Dinge zu besprechen“, weicht Dad aus und wendet sich ab.
„Das tut ihr immer“, werfe ich meinen Eltern vor, „Wir diskutieren und wenn euch die Argumente ausgehen, kehrt ihr mir den Rücken.“
„Das ist nicht wahr“, verteidigt sich Mum.
„Natürlich ist das wahr. Dir ist es vollkommen egal, wie ich mich fühle.“
„Es ist mir nicht egal. Ich bin deine Mutter.“
„Wieso versetzt du dich dann nicht mal für eine Sekunde in mich hinein? Du hast keine Vorstellung davon, wie es ist, ich zu sein. Okay, da deine empathischen Fähigkeiten unterentwickelt sind, lass uns das gefühlt dreitausendste Beispiel aufstellen, damit du verstehst, was ich dir sagen will: Stell dir vor, jeder meiner Tage wär eine endlos andauernde Vorstellung im Zirkus und ich wär Teil des Drahtseilaktes. Ich muss mit einem Einrad übers Seil, was Teil der Nummer ist. Ich hab alles darüber gelesen, bin in der Theorie sattelfest, kann aber trotzdem nicht Einradfahren. Daher falle ich jeden Tag runter. Du, Mum, bist der Zirkusdirektor, der die Peitsche schwingt und mich nach deinen Vorstellungen zu dressieren versucht, was aber keinen Sinn hat, da ichs nicht kann, mir aber auch keiner zeigen kann, wies geht, weil ihr alle nicht Einradfahren könnt.“ Das war doch recht anschaulich.
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