„Aber wir haben nicht alle Zeit der Welt, Fynn.“ Sie hat mich also schon entwicklungstechnisch abgeschrieben.
„Das habe ich auch nicht gesagt. Ich meine nur, dass wir nichts erzwingen sollten.“ Seh ich genauso.
„Siehst du, da bin ich absolut anderer Meinung. Hast du schon mal daran gedacht, dass wir zu nachsichtig mit ihr sind und sie deshalb keine Fortschritte macht?“, wirft Mum ein.
„Natürlich“, gesteht sich Dad ein. Was? Ich dachte, Dad wär auf meiner Seite. „Ich denke an nichts anderes, jetzt, wo ihr sechzehnter Geburtstag naht. Aber wir sollten nicht überstürzt handeln. Immerhin wissen wir nicht, was die Kräfte in ihr auslösen.“
„Glaubst du, sie wird so wie Charly?“ Jetzt vergleicht sie mich schon wieder mit ihm. Hat sie nicht zugehört, was Dad gesagt hat.
Ich bin ein Individuum.
„Meine Erfahrung sagt mir, dass das nicht der Fall sein wird.“ Oh, nun auch vom zweiten Elternteil abgeschrieben.
Klar, dass sie den Maßstab an meinem Bruder ansetzt.
Zum Kotzen ist das.
„Das ist wie bei einer Raupe. Da weiß man vorher auch nicht, welche Farbe der Schmetterling bekommt, wenn er sich entpuppt“, zieht Dad den Vergleich. Oh, wie geistreich.
„Hast du schon mal in Erwägung gezogen, ihr die anderen Kräfte zu verwehren?“ Gute Idee.
Mein Dad braucht deutlich länger, um diese Frage zu beantworten: „Das wäre nicht richtig.“
„Aber du hast es in der Hand, also solltest du dir wirklich sicher sein, welchen Schmetterling zu da weckst.“ Also entscheidet Dad allein, wann ich die weißen Kräfte bekomme.
Gut zu wissen. Und ich bearbeite immer nur Mum. Wer rechnet denn bitteschön damit, dass Dad in ihrer Beziehung auch mal was zu melden hat?
Dads „Es liegt allein an Mary. Wenn ich das Gefühl habe, sie ist den Kräften gewachsen, wird sie sie bekommen. Bis dahin werden wir sehen“ klang etwas unbehaglich.
„Bin ich wirklich zu streng?“, hinterfragt Mum ihr Verhalten mir gegenüber.
„ SIR, NEIN, SIR! “, brüllt Dad wie beim Militär und jagt mir den Schrecken meines Lebens ein.
Scheinbar hängen beide ihren Gedanken nach oder – was viel schlimmer wär – machen rum, denn mein Dad hat meine Mum zu sich umgedreht.
„Raven?“, flüstert mein Dad nach ein paar Minuten, die durch charakteristische Schmatzlaute, die mich würgen lassen, untermalt waren. Philemaphobie: Angst vor Austausch von Körperflüssigkeiten .
„Hm“, brummt meine Mum.
„Lass uns noch ein Baby machen.“
„ Was? “, nimmt sie mir die unausgesprochenen Worte mit derselben Intensität aus dem Mund.
Ihr „ NEIN “ kam mehr als energisch rüber.
Da sind wir zur Abwechslung mal einer Meinung.
„Wieso nicht? Das Haus wär viel lebendiger mit Füßchengetrappel. Ich würd auch meinen Job an den Nagel hängen.“
„Ich bin viel zu alt, Fynn.“
„Das ist nicht der wahre Grund“, deckt er sie auf.
„Nein, ist es nicht. Weißt du, Mary ist … schwierig und verlangt mir als Mutter alles ab. Ich schaffe es nicht mehr, nochmal so ein Kind großzuziehen.“
„Schreikinder sind durchsetzungsstärker als andere, hab ich gelesen“, argumentiert Dad, bestimmt ganz zum Leidwesen meiner Mum. Ich war also ein Schreikind. Ist mir neu – war aber zu erwarten. „Gut, die Hausgeburt war ein absolutes Desaster.“ Sie hat mich zuhause auf die Welt gebracht? Ich fass es nicht.
Erinnere mich daran, dass ich mit keinem Möbelstück mehr in Berührung komme. Und auch nicht mit dem Boden. „Gut, immer wenn du sie stillen wolltest, hat sie nach Leibeskräften geschrien und dich weggestoßen.“ In der Muttermilch reichern sich auch Pestizide an. Das weiß doch jeder. Da sieht man mal wieder, welch visionärer Geist ich war – und das bereits im Windelalter. „Gut, in den ersten zwei Jahren hat sie uns nie direkt in die Augen gesehen. Dann hat sie begonnen, sich mit allem zu bedecken, was sie in die Finger bekommen hat. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob sie uns heute in die Augen sehen kann, wenn sie mit uns spricht.“ Tu ich. Aber nur kurz. Ist ja kaum auszuhalten, so viel Nähe.
„Ich bin müde, Fynn. Außerdem läuft die Tanzschule gerade wirklich gut.“ Gott sei Dank. Ihr Kinderwunsch ist durch mich verflogen.
Und toll, dass von Charly wiedermal keine Rede ist.
„Aber es muss doch nicht sein, dass das nächste … besondere Bedürfnisse hat.“ Na, vielen Dank aber auch.
„Ich habe das Kapitel abgeschlossen.“ Das ist wohl Mums letztes Wort in dieser Sache. Das weiß Dad auch, darum sagt er auch nichts mehr.
Das ist zur Abwechslung mal eine gute Entscheidung, denn noch einen Bazillenausscheider verträgt dieses Haus nicht.
„Fynn?“
„Ja, Raven.“
Das „Wann sagen wir ihr, wer du wirklich bist?“ meiner Mum, was nun deutlich leiser von ihren Lippen kam, lässt mein Herz stolpern.
Was soll das heißen? Was …
„Ich weiß es nicht. Vor heute Nacht hätte ich noch ‚ mit ihrer Hexentaufe ‘ geantwortet, aber jetzt habe ich Zweifel, ob sie das alles auf einmal verkraftet.“ Was denn verkraften? Ich dreh gleich durch.
„Sollen wir es ihr verschweigen?“, will meine Mum doch tatsächlich wissen. Sie kämpft deutlich mit ihren eigenen Worten.
Ich schlucke den Frosch runter, der mir im Hals steckt und spitze die Ohren, um nichts zu verpassen.
„Vorerst halte ich das für das Beste“, rät ihr mein Vater. Was?
„Aber für wie lange?“, haucht meine Mutter.
„Solange wir es für richtig halten.“
„Was, wenn sie es herausfindet?“, mutmaßt meine Mum.
„Niemand weiß davon.“ Niemand weiß wovon?
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei, es ihr zu verschweigen. Es ist ein Teil ihrer Identität“, flüstert Mum. Was? „Was, wenn sie es bereits ahnt?“
„Sie ahnt nichts.“
„Und was machen wir mit Charly?“, wirft meine Mum ein. Was? Mein Bruder weiß davon?
„Charly ist nicht sehr gesprächig.“
Wie lange es her ist, dass meine Eltern den Raum verlassen haben und mich wie versteinert zurückgelassen haben, kann ich nicht sagen.
Ich vermag keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen, zwinge meine wie ferngesteuerten Glieder, sich in Bewegung zu setzen. Aber sie führen mich nicht zurück in mein Zimmer. Ich muss es mit eigenen Augen sehen.
Vor der Tür zur Waschküche zögere ich einen Moment, stoße sie aber dennoch beherzt auf. Die handelsübliche Waschmaschine von der Stange hat nichts mit dem hygienegeprüften Spezialgerät zu tun, mit dem eigentlich ausschließlich meine Wäsche behandelt werden sollte.
Im Wäschekorb, der auf dem Boden davor steht, lugt ein Ärmel eines meiner hypoallergenen Strampelanzüge heraus. Darüber türmen sich die verschwitzten Sportsachen meines Dads in direktem Kontakt.
Was sagt mir das? Sie wäscht meine Sachen mit den aller anderen, die unter diesem Dach leben. In dieser Bakterienschleuder.
Das handelsübliche Flüssigwaschmittel ist auch nicht das, was ich ihr aufgetragen habe. Bei näherer Betrachtung des Etiketts wird mir übel.
Tenside. Wasserenthärter. Bleichmittel. Enzyme. Optische Aufheller. Konservierungsstoffe. Ein Mix aus hoch allergieauslösenden und potenziell erbgutschädigenden, chemischen Inhaltsstoffen. Zumindest ist es parfümfrei. Wahrscheinlich auch nur, damit ich ihre Heimtücke nicht gleich durchschaue.
Bei mir hat schon Schnappatmung eingesetzt, da hab ich die benutzte Unterhose unbekanntem Ursprungs noch gar nicht in der Ecke liegen gesehen.
Mum hat sich nicht mal die Mühe gemacht, den Raum abzuschließen. Immerhin war es höchst unwahrscheinlich, dass ich ihn je betreten würde. Gilt der Besuchszwang doch nur für die Küche, die ich laut Mum – neben meinem Zimmer – zu regelmäßigen Zeiten betreten muss. Den Flur mit eingeschlossen, der ist unausweichlich. Die anderen Räume dieses Hauses meide ich seit Jahren.
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