Wer rechnet denn bitteschön damit, dass heute dieser Tag gekommen ist?
Ich fühle, dass der Zeitpunkt gekommen ist, meiner Mum zu beweisen, dass ich meine Angst in den Griff bekommen kann – sie überwinden kann.
‚ Das glaubst du doch selbst nicht ‘, stößt der Puppenspieler amüsiert aus, was meine neu erlangte Zuversicht sofort wieder ins Wanken geraten lässt.
Er hat schon wieder recht. Zu solchen Gedanken, die noch vor Kurzem an Absurdität grenzten, bin ich bestimmt nur fähig, da ich zwei ganze, in kurzen Abständen eingesaugten, Inhalatoren intus habe.
Eine Überdosis sozusagen.
Aber es wäre nicht dasselbe. Nicht so, als hätte ich es ohne Unterstützung geschafft. Es war eher Zufall.
Es gibt nur wenige Dinge, denen ich mir absolut sicher bin und dazu gehört die Tatsache, dass ich nie, aber auch wirklich nie, nie, nie, nie, nie im Leben diese Tür selbstständig geöffnet hätte.
Daher würde Mum auch nicht stolz auf mich sein, wenn sie davon erfahren würde. Oder wenn sie die späte Erkenntnis ereilen würde, sie wäre es selbst gewesen, die vergessen hat, sie zuzumachen.
Gleichzeitig pocht das Verlangen dumpf an die Tür des Hinterzimmers, in das ich es vor langer Zeit verbannt habe: Das Verlangen aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Aber ich kanns nicht.
Kann meine Angst nicht überwinden.
Selbst jetzt, wo meine Sinne betäubt sind, bin ich nicht stark genug, einen Schritt in den Garten zu setzen. Kann aber – im Gegenzug – auch nicht wieder ins Innere des Hauses zurückkehren.
Ich kann weder vor noch zurück.
Hier stehenbleiben kann ich aber auch nicht.
Nun finde ich mich vor – allein, unschlüssig, was das geringere Übel ist. Mein Kopf schnellt vom Haus zum Garten und wieder zurück.
„ Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen? Das Drinnen oder das Draußen? “, neckt mich der Puppenspieler.
Niedergeschlagen komme ich zu der Erkenntnis, dass ich mich nie werde aus eigener Kraft von den Fesseln des Puppenspielers befreien können, der immer den Takt angeben wird.
Aber irgendetwas muss ich tun.
Für alle Zeit wie angewurzelt hier stehenbleiben und erfrieren kann ich auch nicht. Und als ob das hier nicht schwer genug zu ertragen wäre, ertönt nun im Hintergrund dieses Geräusch. Als hätte es auf mich gewartet, um sich zusätzlich über mich lustig zu machen.
Ich weiß genau, was es ist, denn das Geräusch ist mir wohlvertraut. Es ist da, wenn ich aufwache, ist mein steter Begleiter tagsüber und allgegenwärtig bis ich spät abends die Augen zumache. Selbst im Schlaf sucht es mich heim. In meinen Träumen pirscht es sich an und klopft an meine Tür, verfolgt mich immerwährend. Wie ein lauter Begleiter, ein Schatten, der selbst die Stille nicht scheut: Die Schaukel.
Seit ich denken kann, steht sie in unserem Garten. Unter meinem Fenster.
Unbenutzt.
Quietschend.
Der aufkommende Wind, der mir die Schneeflocken an den zitternden Leib weht, hat dieses vom Mondlicht beleuchtete Spielgerät angefacht, das in mir schreckliche Erinnerungen weckt und mich seit dem Tag meiner Geburt in den schier sicheren Wahnsinn treibt.
Ich weiß nicht, wie oft Pseudo-Dad schon versucht hat, sie zu ölen, damit sie nicht dieses abartige Geräusch von sich gibt.
Das Ding quietscht weiter.
Egal was er macht. Sogar seine Versuche, das Ding still zu zaubern blieben ohne Erfolg.
Nach zahllosen Jahreswechseln schwand meine Hoffnung, das Teil würde irgendwann mal von selbst in sich zusammenfallen.
Die verdammte Schaukel trotzt jeder Bewitterung. Allein schon, um es mir heimzuzahlen.
Ein zäher Brocken, dessen Bild sich mir aus meiner Fensterperspektive quer durch alle Jahreszeiten bietet.
Ich kenne sie tief winterlich verschneit, mit goldgelben Blättern des Herbstes bedeckt, von Frühlingspollen eingezuckert bis hin zur leichten Sommerbrise, die sie hin und her schwingen lässt.
Sie stammt noch von den Vorbesitzern dieses Hauses. Wohl ein Grund, warum Mum die Hütte wollte. Die Schaukel hat sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Immer noch kein Grund, ein gebrauchtes Haus zu erstehen. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um darüber hinwegzukommen.
Mein Vorschlag zur Lösung des Problems, die Schaukel mit einer Kettensäge dem Erdboden gleichzumachen, hat mir eine Woche nonstop Bollywood-Film-Dauerbeschallung eingehandelt, um – ich zitiere Mum wörtlich – „ Mein Aggressionspotenzial einzudämmen “.
Seitdem weiß ich, dass Inder die emotionalsten Wesen auf diesem Planeten sein müssen und dass Mum tatsächlich an dem Teil hängt.
Das mit ihren Kindheitserinnerungen war zumindest immer ihr Hammerargument, mit dem sie jede meiner zahlreichen Anstrengungen ausgeschlagen haben, das nutzlose Teil zu entfernen.
Ich weiß noch, wie Mum die Schaukel immer als Instrument benutzt hat, um mich damit nach draußen zu locken.
Natürlich vergeblich.
„ Mary, Mary, das ist so toll. Komm raus. Das macht Spaß “, höre ich sie heute noch rufen, als wärs gestern gewesen.
Es fehlte nur noch, sie hätte sich dazu herabgelassen, sich selbst draufzusetzen und loszuschaukeln, was glücklicherweise nie passiert ist. Ich, die sie immer vom Fenster aus beobachtet habe, hatte wohl das Vorrecht, die Erste zu sein, die das Spielgerät einweiht.
Dazu kam es nie.
Unzählige Male hat sie es versucht, mich damit für das Draußen zu gewinnen, bis sie es irgendwann aufgegeben hat.
Seitdem rostet sie vor sich hin.
Und quietscht.
Als würde sie beleidigt sein, weil ich nie mit ihr gespielt habe und mir damit ständig in die Ohren liegen, welchen Spaß wir nicht zusammen hätten haben können.
Nicht nur wegen Mums zahlreichen, enttäuschten Blicke, die mir nicht verborgen blieben, wenn sie erneut scheiterte, mich damit zu ködern, sondern vor allem auch wegen dem „Päckchen“ ist die Schaukel zu meinem ganz persönlichen Symbol für unsere total verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung geworden.
Ich hasse die Schaukel. Die Schaukel ist böse.
Das „Päckchen“ ist einer ihrer glorreichen Ideen entsprungen, mit der sie mich eines Tages ködern wollte. Dabei handelt es sich um ein Geschenk von Mum mit roter Schleife. Sie hatte wohl eine neue Strategie entwickelt und dazu das Päckchen plakativ auf dem Schaukelsitz platziert.
Was soll ich sagen? Es liegt heute noch da. Natürlich nicht mehr so taufrisch wie damals. Der Karton ist nach dem ersten Regen eingefallen und die Schleife hat ein Sturm fortgerissen.
Jede andere Mutter wäre eingeknickt und hätte mir das Geschenk – nachdem klar war, dass ich es mir nie holen werde – trotzdem gegeben.
Aber nicht Mum.
Nein, sie tauscht in regelmäßigen Abständen den Karton, verpackt es neu und hat es zusätzlich noch mit einem Seil fixiert. So stellt sie sicher, dass ich es ständig vor der Nase habe. Es muss bereits knappe zehn Jahre da draußen vor sich hingammeln.
Wie konsequent kann man eigentlich sein?
Ich hätte jede Wette abgeschlossen, jemand würde es bereits in der ersten Woche klauen, doch scheinbar will es keiner.
Es ist ihr ganz persönlicher Psychoterror, dem sie mich tagtäglich aussetzt.
Ich hasse Geschenke. Geschenke sind böse.
Manchmal – wenn mir meine Phantasie einen Streich spielt, wie sie es eben gerade tut – glaube ich zu hören, das monotone vor und zurück Quietschen klinge wie: ‚ Komm-raus. Komm-raus. Komm-raus. Komm-raus .‘
Als würde die Schaukel mich – wie die längst verklungene Stimme meiner Mum – auch zu sich rauslocken wollen. Mit dem Geschenk auf dem Präsentierteller.
Ihrem Ruf bin ich aber nie gefolgt. Es ist total grotesk, aber ich frage mich immerzu, was in diesem scheiß Päckchen ist.
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