Was weiß ich?
Ich hänge an keinen Dingen. Dazu hab ich viel zu viel Angst.
Es wär rein theoretisch auch möglich, dass sie das komplette Versteck längst vergessen hat.
Erneut mustere ich das Bild genauer. Forsche nach Details, die die Identität des Fremden preisgeben könnten, werde aber nicht fündig. Das Foto hat die Zeit wohl nicht unbeschadet überdauert, da es sichtlich zerknittert und an den zahlreichen Faltkanten Farbe eingebüßt hat.
Es sieht definitiv abgegriffen aus. So als hätte sie das Bild tausendmal in der Hand gehabt, bevor sie es wieder eingerollt im Hammer versteckt hat.
Es ist aber auf jeden Fall Träger von Erinnerungen. Glücklichen Erinnerungen, die man in ihrer Liebkosung lesen kann.
‚ Oder furchtbaren ‘, wendet der Puppenspieler ein. ‚ Erinnerungen, die man nicht loswird, weil sie einen verfolgen .‘
Deshalb ist der Hammer mit dem verborgenen Bild auch nicht in der Werkzeugkiste gelandet. Er ist zu kostbar für meine Mum oder sie erträgt es nicht, ihn anzusehen, weil an ihm schreckliche Erinnerungen anhaften.
Trauert sie vielleicht dieser verflossenen Liebe hinterher? Womöglich wenn sie nachts nicht schlafen kann.
Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge, wie sie hinter dem Rücken meines schnarchenden Pseudo-Dads an diese Zufluchtsstätte kommt und in Erinnerungen längst vergangener Tage schwelgt, die sie wie einen Schatz hütet. Das Foto sogar an ihre Lippen führt, um das Feuer zu spüren, das längst in ihr erloschen ist.
Sie kann nicht loslassen. Kann sich nicht davon trennen.
Wieso nicht?
Auch auf diese Frage kenne ich die Antwort: Weil eine Verbindung zwischen dem unbekannten Bauarbeiter und meiner Mum besteht, die die Zeit überdauert hat.
Der Mann auf dem Bild ist mein leiblicher Vater, da bin ich mir sicher.
Immerhin habe ich mehr optische Gemeinsamkeiten mit ihm als mit Pseudo-Dad, dem ich kein bisschen ähnlich sehe. Hier stimmt zumindest schon mal die Haarfarbe mit der meinen überein.
Ich fühle ein Stück in mir zerbrechen. Das ist Verrat. Verrat an meinem Pseudo-Dad. Verrat an ihren Kindern.
Warte mal.
Könnte es sein, dass ich ein „ Unfall “ war? Nicht geplant? Ein Überbleibsel aus einer längst beendeten Beziehung. Das Stiefkind, das Mum in ihre neue Beziehung mit Pseudo-Dad mit eingebracht hat, der zwar meinen leiblichen Vater kennt, mich aber wie sein eigenes Kind aufzieht.
Oder wollte mein echter Vater mich nicht? Vielleicht weiß er auch gar nicht, dass ich sein Kind bin.
Weiß nicht, dass ich existiere.
Wer ist er? Ein Hexer? Ein Mensch? Nein, er muss ein weißer Hexer sein, sonst würde mein Pseudo-Dad nicht davon sprechen, dass er meine „anderen“ Kräfte vorerst bewahrt. Womöglich hat sie ihm mein Vater ausgehändigt.
Die unterschiedlichen Szenarien, die meinen Kopf nun zum Bersten füllen, sind kaum zu ertragen.
Aber inmitten der Verwirrung weiß ich eins ganz genau: Die Sachen gehören jetzt mir. Sollen mir als Indizien dienen, um die Wahrheit herauszufinden.
Schnell schiebe ich das Foto in meine Hosentasche und knote den Hammer an das Stoffband, das meinen Overall an der Hüfte zusammenschnürt. Die Schachtel lege ich an ihren ursprünglichen Platz zurück und rücke das Spiegelstück zurecht.
Dabei fällt mir ein Gegenstand auf, der hinter ein paar Schuhen versteckt war. Er sieht aus wie eine Art kleine Pistole, auf der ein Blitz abgebildet ist, die ich hervorhole. Vorne am Lauf befindet sich ein gelb schwarz gestreifter Block.
Geschockt lasse ich das Teil fallen.
Ist das ein Elektroschocker? Was zum Teufel macht Mum damit in ihrem Schlafzimmer-Schuhschrank?
Okay, das wird ja immer grusliger, obwohl ich mich damit verteidigen könnte – sollte ich je die Hürde überwinden, das Ding nochmal anzufassen, versteht sich.
Ich bin hin- und hergerissen, packe die Waffe aber kurzerhand in meine andere Hosentasche. Man kann ja nie wissen, wozu sie mir noch nützlich sein wird.
Die Ordnung im Schuhschrank meiner Mum wiederherzustellen ist einfach. Die Farben der Taschen werden immer dunkler je weiter man zur Tür kommt.
Schon bald ist wieder alles beim Alten.
Nichts zeugt noch von dem Chaos, das hier noch vor ein paar Minuten herrschte.
Wenn das wahr wäre, wieso fühle ich dann eine innere Leere, die seinesgleichen sucht? Mein Vorstoß in Mums Schuh-Rumpelkammer hat ein totales Durcheinander in mir hinterlassen.
Dieses Haus ist gespickt von Lügen, Geheimniskrämereien und gegenseitige Verarsche, was kaum auszuhalten ist.
Ich muss hier raus.
Keine Sekunde ertrage ich diese vier Wände mehr – so viel ist sicher. Ich kann nicht nach draußen gehen, aber hier drin bleiben kann ich auch nicht.
Alles ist infiziert.
Infiziert mit verzerrten Wahrheiten.
Mehr stolpernd bahne ich mir einen Weg durch die obere Etage und der Treppe ins untere Geschoß, dessen einsame Stille nur durch die Pfeiflaute meines schnellen Atems, der durch den Schnorchel eher wie ein tauchender Darth Vader klingt, unterbrochen wird.
Aufgeputscht durch die viel zu hohe Dosis meines Inhalators überwinde ich die Schwelle unseres, in diffuses Licht gehüllten, Wintergartens.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, das Glashaus würde die schwüle Luft des vorangegangenen Sommertages länger konservieren, die sich in diesem Moment in meine Kleidung fressen und die Schweißperlen auf meiner Haut noch weiter anfachen sollte, doch zu meinem Erstaunen ist es eiskalt.
An den gläsernen Scheiben wachsen Schneeblumen empor und lassen das Konstrukt wie eine Eisgrotte wirken.
Dass alles unter der Last des Schnees zusammenbrechen und mich darunter begraben könnte, wirkt fast als lächerliche Angst – verglichen mit meiner Entdeckung, die ich soeben mache und die mich in meinen Grundfesten erschüttert: Die Tür steht offen.
Die riesige Glasschiebetüre, die den Garten und alles, was sich dahinter befindet, vom Haus aussperren sollte, steht sperrangelweit offen.
Obwohl es offensichtlich ist, wird mir nur langsam klar, was ich gerade getan habe. Besser gesagt, wo ich da reingeraten bin: Ins Draußen.
Über mir prangt zwar noch das schützende – und zugleich auch potenziell todbringende – Glasdach, aber vor mir befindet sich das Nichts.
Nein, das Alles. Das Alles, was meine kühnsten Angstvorstellungen übersteigt.
Eigentlich sollte die Tür fest verschlossen sein. Hermetisch abgeriegelt. Jemand hat vergessen, das Draußen auszusperren.
Das Draußen geht gar nicht. Das Draußen ist böse.
Und ich bin geradewegs reingelaufen. Mein Blick wandert über meine Schulter zurück ins Hausinnere. Ich spiele mit dem Gedanken, die Tür zu schließen und mich schreiend in mein Refugium zu retten.
‚ Was würde das nützen? Im Haus ist sowieso schon alles, was nicht hier herein gehört ‘, kichert der Puppenspieler, der wie gebannt auf meine nächsten Schritte wartet.
Mir vorzustellen, jemand wäre schon hier eingedrungen, der gerade unser Hab und Gut durchforstet, lässt die Knie des Püppchens schlottern.
Ich drehe den Kopf wieder in Richtung des Draußens. Der Puppenspieler würde genau das erwarten. Würde erwarten, dass das Püppchen jeden Moment den Schwanz einzieht. Er weiß es, dass es so laufen wird und das Püppchen weiß es auch.
Das ist nur eine Frage der Zeit.
Aber etwas ist anders.
Etwas hat sich zwischenzeitlich verändert.
Mein Zimmer ist kein Rückzugsort mehr. Dieses Haus ist nicht mehr sicher. Beziehungsweise hat es jetzt den Status der Außenwelt.
Ich höre die Stimme meine Mutter in meinem Kopf: ‚ Es wird der Tag kommen, an dem du wohl oder übel über deinen Schatten springen musst … Du wirst dieses Haus verlassen .... ‘
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