Rudolf hätte den Papa weiterhin mit Fragen eingedeckt, doch der Kaffee wurde aufgetragen, und die drei Baugenossen Parkowski, Ardies und Birnhardt erschienen zum sonntäglichen Skat. Gemeinsam hatten sie Pegoud erlebt, sie erzählten begeistert, und Rudolf saß mit offenem Mund. Die eingefleischten Skatbrüder vergaßen vorerst ihr Spiel, und das wollte etwas heißen. Sie bewunderten in Pegoud und seiner Flugkunst das Jahrhundertereignis und ahnten nicht, dass Militaristenhirne bereits planten, die großartige Errungenschaft als Kriegsgerät zu missbrauchen.
Fragte man in diesen Tagen einen Jungen, was er werden wolle, dann lautete die Antwort: Flieger wie Pegoud. Bloßer Wunschträume überdrüssig, begannen die älteren Jungen, ihrem Idol praktisch zu huldigen; sie bastelten Flugzeuge. Mehrere dieser leichten Vögel aus Wurstspeilen und Leinwand baute Ete Birnhardt. Etes Vater war Taxichauffeur. Zu der Zeit waren Pferdedroschken immer noch beliebter als ihre Konkurrenz, die Benzinkutschen, die statt Rossäpfel nur Gestank hinter sich ließen, und wollten sie konkurrieren, mussten sie hübsch blank geputzt sein.
Ob seines Vaters ehrlichem Broterwerb hatte Ete viel Spott auszustehen. Kam er irgendwann auch nur eine Minute zu spät, gleich hieß es: "Musstest wohl Papas Stänkerkiste putzen, wat?" Wollten sie ihn hänseln, riefen ihn Freund und Feind "Putzer".
Übung macht den Meister, und als Neuestes in der Modellbauerei hatte Ete ein wahres Prachtwerk mit einem Gummimotor gebastelt. Immer wieder drängten ihn die Freunde zu Vorführungen. Er hatte schon Blasen an Daumen und Zeigefinger, denn der Propeller der Rumpler-Taube musste so lange gedreht werden, bis die vielen parallel laufenden Gummibänder zu einem hoch gespannten Strick zusammengedreht waren. Stellte man nun die Leichtgewichtige auf den Boden und ließ den Propeller los, dann jagte die Gummispannkraft Etes Taube einige Zentimeter über dem Erdboden dahin.
Ruhm kann lästig werden, bald verkündete Ete, er könne nicht nur Flugzeuge fabrizieren, sondern auch Flugzeugabstürze. Es sprach sich schnell herum. Zur festgesetzten Zeit öffnete sich das Stubenfenster im obersten Stockwerk des erstgebauten Hauses in der Paradiesstraße. Ete hielt die unschuldige Flugtaube zur Ansicht weit aus dem Fenster und verkündete den Beginn des Todesfluges. Lautes Ah und Oh ertönte, die Straße war verstopft von einer quirlenden Kindermenge, erstaunlich, wie viel Gören, trotz propagierten Zweikindersystems, in Paradies vorhanden waren.
Ete stopfte den Pilotensitz voll Watte, tränkte die Watte mit Benzin, entzündete ein Streichholz und warf das Leinenspielwerk mit voller Wucht in die Luft. Hundertstimmiger Schrei ließ jegliches Lebende in der Baugenossenschaft erzittern, wild flüchtete, lief, rannte, raste alles davon, jeder fürchtete, vom brennenden Aeroplan getroffen zu werden. Doch die Angst war umsonst. Zwar flog das Modell erst ein Stück in die Welt hinaus, doch dann kehrte es in elegantem Bogen zum Haus zurück, glitt sanft ein Stück seitwärts und sauste dann im Sturzflug hinab auf Siefferts Markise, die dort als Sommerdach den Vorgarten zierte. Rufe des Entsetzens stiegen zum Himmel. "Ojemine, wenn nu det Haus abbrennt ...!"
Orje Bläsner war wieder einmal zur Stelle und beförderte das qualmende Unglück mit einer Harke zur Erde, wo die stolze Himmelstaube unrühmlich zertreten ward.
Ete kam eilenden Fußes die Treppe hinunter, um Löschdienst zu leisten, aber zu spät, in der Markise gab nun ein Loch mit schwarzem Rand den Blick in den Himmel frei. Frau Birnhardt rief den Sohn zwecks Abstrafung nach oben. Die Freundschaft plädierte lauthals für Freispruch. Dessen ungeachtet bekam Ete vom Vater abends "seine Wamse". Am nächsten Skatabend bei Treulichs erboste sich der rotbäckige Choleriker: "Der Bengel soll mit'm Stabilbaukasten spiel'n, Blech kann wenichstens nich fliejen. Die verdammten Stoppelhopser machen unsre Jungs janz knille."
Für die ersten Luftsprünge bejubelt, wurden die deutschen Aviatiker bald als Stoppelhopser verlacht, denn geraume Zeit kamen sie ins Hintertreffen gegen solch ausländische Flieger-Asse wie Monsieur Pegoud.
Ein Jahr später, als der Krieg begonnen hatte, unterstand das Flugwesen dem Oberkommando des Heeres, und jetzt wurden in Johannisthal Kriegsflieger ausgebildet. In der Sommerzeit gab es in der Umgebung Bahnsdorfs so manche Notlandung. Im Nu sprach sich das jedes Mal herum, und die Jugend rannte zum Ort des Unglücks. Schnell hatten die Kinder mitbekommen, dass eine der Ursachen gebrochene Benzinleitungen waren. "Die müssten eijentlich aus Platin sein", verkündete Fachmann Ete, "det is siebenmal zäher als Kupfer." Er hatte auch den Freunden geraten, nie ohne eine leere Pulle loszurennen, denn beim ersten Mal hätte er blutige Tränen weinen mögen angesichts der Benzintränen, die nutzlos in den märkischen Sand tropften.
Einmal brachte auch Rudolf eine Benzinbeute heim. Der Doppeldecker aus Sperrholz, mit dem schwarzen Eisernen Kreuz auf dem Rumpf, war aufgefallen, weil er mehrmals ins Trudeln kam, was sehr nach Absturz aussah. Im letzten Augenblick hatte sich das Flugzeug gefangen und war kurz vor dem Wald auf einem Stoppelacker gelandet. Als die ersten Schnellläufer bei der Landestelle ankamen, saß der Flieger noch immer im Cockpit und starrte vor sich hin. Auf die besorgten Fragen antwortete er nicht, der Schock schien ihm Verstand und Glieder zu lähmen. Dann gab er sich einen Ruck und kletterte aus dem Pilotensitz. Ein teurer Fuchskragen zierte seine Lederjacke, er zerrte die Pilotenkappe vom Kopf, setzte eine weiche Offiziersmütze auf und klemmte sich ein Monokel vor das rechte Auge. Unwillkürlich trat der Kreis der Gaffer einen Schritt zurück. Der Herr Offizier fragte: "Wo ist das nächste Telefon?" Kinder und Jugendliche schwiegen, doch ein älterer Mann trat ehrerbietig näher und erklärte den günstigsten Weg. Ohne sich zu bedanken, stelzte der Herr davon. Ete Birnhardt fragte in seinem Rücken: "Dürfen wir 'ne Pulle unters troppende Benzin halten?" Der mit dem Fuchskragen drehte sich brüsk um und schnauzte: "Nein!" Volksgemurmel antwortete, und es ließ sich beim besten Willen nicht als freundlich bezeichnen.
Der Notlander war noch gar nicht im Ort verschwunden, da begann sich schon Etes Flasche zu füllen. Ein Knäuel Jungen mit leeren Flaschen drängte sich um ihn, jeder beteuerte, Erster am Flugzeug gewesen zu sein. Rudolf war heftig zurückgeschubst worden und stand sehr am Rande des Geschehens. Ete knipste seine gefüllte Brauseflasche zu und wies auf Rudolf: "Nu kommt erst der Kleene dran, den habt ihr fast dotjetreten!"
"Höh, höh, wer bestimmt denn det?"
"Ick natürlich."
"Hat's dir der Monokelfatzke erlaubt?"
"Erlaubnis hab ick mir selbst erteilt. Und nu erteil ick sie mir noch für'n kleenen Rudi, ihr kriegt ja alle noch, Jungs."
Ete klopfte bestätigend an den Rumpf. "Der hat 'ne Menge Pengzin, der wollte mindestens bis Buxtehude."
Niemand wusste genau, wo Buxtehude liegt, es war bei den Bahnsdorfern ein Begriff für sehr weit. Pengzin sagten sie, wenn es spöttisch klingen sollte, jemand hatte irgendwann behauptet, das Wort Benzin sei französischen Ursprungs.
Gemeinsam trabten Ete und Rudolf nach Hause, am Durchgang zur Nummer elf verabschiedete sich der Kleine vom Großen und versicherte dankbar, er werde dem Papa von Etes Hilfe erzählen.
Ete schwenkte abwehrend den Zeigefinger. "Erstens is dein Papa nich hier; zweetens isser im Krieg; und drittens is et besser, du sagst ihm nischt. Wie ick deinen Papa kenne, gloobt der noch, wir haben det Benzin jeklaut."
Selbst eine elende Kindheit hat noch Glanz,
der bis ins hohe Alter leuchtet.
Bevor die Flugzeugnotlandungen und -abstürze des ersten Kriegsjahres zu bleibenden Erlebnissen der Bahnsdorfer Kinder wurden, hatte Rudolf eine harte Prüfung zu bestehen. Der Tod der Mama kam schrecklich überraschend. Noch im Oktober hatte sie dem Söhnlein vier Lichter um den Geburtstagskuchen angezündet, im November lag sie bleich in dem schwarzen Sarg. An des Vaters Hand ging der Kleine zur schmucklosen Leichenhalle des Bahnsdorfer Friedhofs. Er stand eine Weile schweigend neben dem Papa, bis sein Unverständnis ihn bitten ließ: "Schlaf nicht mehr, Mama, wach doch auf." Als er Anstalten machte, die Tote zu küssen, hob ihn der Papa rasch hoch und verließ mit ihm die Stätte der Trostlosigkeit. Emil Treulich drückte seinen Jungen an die Brust, und der spürte, dass der Vater weinte, ohne Tränen weinte.
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