E.R. Greulich - Des Kaisers Waisenknabe

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Wie lebt man als «des Kaisers Waisenknabe»? Man lebt im Paradies. So wörtlich darf man das allerdings nicht nehmen. Das Paradies ist eine genossenschaftliche Arbeitersiedlung am Rande Berlins, gegründet als Alternative zu Mietskaserne und Hinterhof. Schön ist es hier, doch ganz am Rande lebt man denn doch nicht. Der Krieg bricht aus, und der Kaiser schickt den Vater an die Front. Rudolf, fünf Jahre alt, bleibt mit Mama Hanni zurück, und wenn Vaters zweite Frau auch nicht die böse Stiefmutter aus dem Märchen ist, seine Probleme hat er schon mit ihr.
Voller Einfühlungsvermögen erzählt der Autor von einer Kindheit in schwerer Zeit. Dass Humor und Komik nicht zu kurz kommen, dass originelle Leute und originelle Erlebnisse eine Rolle spielen, dafür sorgt E. R. Greulich, seinen Lesern durch viele Bücher bekannt.

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E.R. Greulich

Des Kaisers Waisenknabe

Kindheitserinnerungen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis Titel ER Greulich Des Kaisers Waisenknabe - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel E.R. Greulich Des Kaisers Waisenknabe Kindheitserinnerungen Dieses ebook wurde erstellt bei

Epilog Epilog Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnet in Berlin, und wär' es nicht so weit von hier, dann ging' ich heut' noch hin. Wir sangen das aus voller Kehle, denn Kinder glauben gern, und die Melodie war so herzig. Dass der Besungene ein bisschen sehr anders zu betrachten sein könnte, das merkten wir erst später.

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Impressum neobooks

Epilog

Der Kaiser ist ein lieber Mann,

er wohnet in Berlin,

und wär' es nicht so weit von hier,

dann ging' ich heut' noch hin.

Wir sangen das aus voller Kehle,

denn Kinder glauben gern,

und die Melodie war so herzig.

Dass der Besungene

ein bisschen sehr anders

zu betrachten sein könnte,

das merkten wir erst später.

ERSTES KAPITEL

Geschichtsbücher vermitteln Geschichte,

Biografien gelebtes Leben.

Keiner wird gefragt, ob er geboren werden will, und auch Rudolf hatte sich darein fügen müssen. Als er das Licht der Welt erblickte, zeigte der Kalender den sechsten Oktober des Jahres 1909. Licht der Welt klingt poetisch, der Ankömmling benahm sich eher prosaisch. So viel Hell stach ihm in die Augen, also kniff er sie zu und schrie. Das zeigt, wie subjektiv der Winzling die Dinge nahm. Denn objektiv gesehen, gaben sich die Umstände recht leidlich. Eine glückliche Mutter, ein sonniger Oktobertag, eine warme Stube, und selbst die Hebamme wusste nichts zu bemängeln. Zudem befand sich das Heim des Neugeborenen in der wunderschönen Stadt Berlin, in der Jahnstraße, nahe der Hasenheide, kurz vor der Grenze zu Rixdorf, das später Neukölln hieß.

Auch an der Wahl der Eltern hatte man Rudolf nicht beteiligt, wie es ja überhaupt höchst undemokratisch zugeht bei der Geburt eines Erdenbürgers. Erdenbürger! Welche Übertreibung für ein Menschlein, dessen Daseinsstatus damals bestenfalls als Untertan bezeichnet werden konnte. Was manch einem lebenslang anhängt. Ob es auch bei Rudolf der Fall sein würde, das dürfte vielleicht am Ende herausgefunden worden sein,

Vorerst lebte er noch im warmen Nest des Fühlens und Träumens, vom Denken nicht gequält, und was wir in den Anfangskapiteln erfahren, ist Ergebnis von Erinnern und erzählt bekommen, also rekonstruiert vom späteren, wie wir hoffen wollen, auch reiferen Helden des Romans. Dessen Trachten, Sinnen und Handeln dürfte besser zu begreifen sein, wird uns zur Kenntnis gebracht, von welchen Eltern ward er gezeugt, wie war es mit deren Eltern bestellt. Zur Entschuldigung des Autors sei gesagt, nicht einmal die kleine Schwester des Romans, die Novelle, kommt ohne eine Exposition aus, und bei einem ordentlichen Stück ist es nicht anders.

Die Mutter Martha war keine auffallend hübsche Person, ihre Schönheit hatte, wie meist bei gescheiten Frauen, etwas Verinnerlichtes. Aschblond, mittelgroß und zartgliedrig, war sie für die damalige Zeit recht selbstsicher, ihre Ausdrucksweise verriet überdurchschnittliche Bildung für ein Mädchen aus dem Arbeiterstand. Sie hatte das Lyzeum besucht. Der Vater Julius Saupt, ein rechtschaffener Sattlergeselle, meinte, die höhere Schulbildung schulde er der Martha, ältere der beiden Töchter und intelligenter als die hübsche Erna. Hier wird der Geschichtsbewanderte die Stirn runzeln: Tochter eines Arbeiters besucht das Lyzeum? Abermals Stirnrunzeln, wenn gesagt werden muss, der Sozialdemokrat Saupt habe von Bismarcks Sozialistengesetz profitiert. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich leicht. Julius hatte eine kleine Erbschaft gemacht, und die Gesinnungsfreunde drängten ihn, mit den ins Haus gefallenen Talern eine Destille zu kaufen. Er folgte dem Rat. Damit hatte er eine feste Kundschaft und die Partei ein festes Lokal, äußerlich nicht von anderen Berliner Budiken zu unterscheiden. Von der Neugier nach dem Leben seiner Großeltern getrieben, hatte der halbwüchsige Rudolf später einmal die Gegend aufgesucht. Er fand jene Kneipe so, wie vom Vater beschrieben. Neben der Eingangstür im Schaufenster ein Tönnchen und zu den grünen Zweiliterflaschen mit Patentverschluss der Hinweis: "Bier in Siphons auch außer dem Hause!" Damit kein Zweifel aufkomme, dass Schnaps ebenfalls vorhanden, stand quer über dem Schaufenster in weißen Buchstaben: "Destillation". Auf den Schildern links und rechts des Etablissements fehlte nicht das Angebot: "Weinbrände & Liqueure aller Sorten", wogegen ein großes Blechschild über dem Ganzen kundtat: "Saupt's Bierstuben". Das entsprach in etwa der Wahrheit, denn die beiden Vereinszimmer waren wenig größer als übliche Wohnstuben. Auch innen bot sich das Bild eines gemütlichen Lokals, und nur jemand mit sehr feinem Gespür hätte die besondere Atmosphäre wahrgenommen. Der Wirt kannte seine Gäste, die Gäste kannten sich, und tauchte ein Fremder auf, dann wurde dem auf den Zahn gefühlt, bis man wusste, woran man mit ihm war. Das diente dem Selbsterhaltungstrieb und bewahrte die Partei vor Schaden. Nach der Zeit des Sozialistengesetzes wurde der Brauch von Wirt und Gästen aus alter Gewohnheit noch einige Zeit beibehalten.

Julius Saupt zahlte seinen Parteibeitrag, las seinen "Vorwärts", disputierte mit den Stammkunden über Wahlaussichten, Lohndrückerei und Tarifstreitigkeiten und gab sich eher radikaler als in der Zeit, da er Sattler war. Deshalb wäre er bass erstaunt gewesen, hätte ihn jemand einen kleinen Besitzbürger genannt. Er war der Meinung, er habe eine längere Arbeitszeit sowie mehr Sorgen als seine Arbeiterkunden, und darum sei es rechtens, wenn er öfter einen Groschen beiseite legen könne. Aus den Groschen wurden Markstücke, und die sammelten sich in Sparbüchern. Es belastete das sozialdemokratische Gewissen Julius Saupts keineswegs. Man muss ja nicht immer an der Hungerkante entlangleben, um Proletarier zu sein. Hat er der Partei nicht mehr genützt als mancher Klugscheißer? Wenn man dabei selbst auch zurechtkommt, verstößt das etwa gegen das Parteistatut? Nach solchen Überlegungen fand sich Vater Saupt trefflich bestätigt im Bildungsanspruch für die Älteste. Die Saupts waren auf ihre hochfliegenden Pläne stolz und betonten es vor dem Enkel Rudolf, der sie auf ihre brieflichen Bitten hin - er war inzwischen Lehrling - besuchte. So viel Gewese um Studieren oder Nichtstudieren konnte dem Enkel kaum imponieren. Rudolf befand sich ohnehin in dem Lebensalter, wo derart selbstbezogene Strebsamkeiten gern als spießbürgerlich abgetan werden.

Julius und Luise Saupt hatten sich nicht mehr als zwei Kinder "erlaubt", und das wies zu der Zeit auf eine fortschrittliche Einstellung hin. Dass es zwei Mädchen waren, gefiel den Eltern sehr. Da brauchen wir dem Kaiser keine Soldaten zu stellen, erklärten beide, denn Söhne würden womöglich auf die eigenen Eltern schießen müssen. Das hatte Kaiser Wilhelm Zwo von allen Deutschen im Waffenrock gefordert. Sagte jemand, Mädchen unter die Haube zu bringen, mache aber auch Sorgen, so reagierten die Eltern selbstverständlich sozialdemokratisch. Die beste Aussteuer sei Wissen und Bildung, ein richtiger Arbeiter heirate nicht den Geldbeutel, sondern seine Liebe. Allerdings wäre die Mutter nicht böse gewesen, wenn Martha ihnen einen Rechtsanwalt, einen Arzt, notfalls auch einen Druckereibesitzer als Bräutigam präsentiert hätte. Rudolfs Großmutter war eine imposante Budikenvorsteherin mit großem Busen und breiten Hüften, und im Zorn wirkte sie majestätisch. Erwähnte Rudolfs Papa sie manchmal vor Freunden, dann nannte er sie gern "der Große Kurfürst".

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