Keines Vierjährigen Fantasie reicht aus, sich vorzustellen, wie es sein wird, wenn der geliebte Mensch morgen nicht mehr da ist, übermorgen nicht und überhaupt nicht mehr. Der Augenblick des Abschieds vom Sarg verursachte dem Kleinen mehr beklemmende Verwunderung als Schmerz. Da die Erwachsenen ausweichend antworteten, fragte er immer seltener, und vorerst wuchs langsam Gras des Vergessens über all das Unverständliche. Wer auch hätte es vermocht, dem Knirps das Elend des mörderischen Abtreibungsparagrafen zu erklären.
Wie nicht wenig fortschrittliche Leute waren sich Martha und Emil Treulich eins in der Auffassung, ein Kind ist genug! Gerade jene, die vom Kindersegen als patriotische Pflicht redeten, hielten sich selbst gern zurück nach der Devise: Das niedere Volk ist gut dafür, die Gebärmaschinen zu stellen. Gegen diese "Arbeitsteilung" wehrten sich nicht nur die Sozialdemokraten, die hellhörig die außenpolitischen Prahlereien des Gottesgnadenkaisers vernahmen. Selbst nach Meinung des konservativ-strammen Kanzlers Bülow zertepperte die redselige Majestät nicht selten diplomatisches Porzellan und beschwor Kriegsgefahren herauf. Nicht zuletzt auch deshalb, meinten die Treulichs, im Sinne August Bebels, diesem Kaiser keinen Soldaten. Doch Verhütungsmittel gab es offiziell nicht zu kaufen, sie waren auch noch recht unzulänglich, und so kam es, dass es selbst aufgeklärten Eheleuten manchmal "passierte", dann blieb nur der Weg zur "Weisen Frau" oder zu einem Kurpfuscher. Auf die Art war die Mutter ums Leben gekommen, erfuhr Rudolf später und dass mit ihr viele Mütter im besten Alter diesen schlechten Tod starben.
Der Witwer Emil Treulich gab den Sohn bei guten Bekannten - den Jonders - in Verwahrung. Gute Bekannte - ein Begriff, der genauerer Prüfung oft nicht standhält. Gustav Jonder war manchmal der vierte Mann beim Skat. Die fünfköpfige Familie wohnte in dem Haus Paradies- Ecke Quaritzer Straße, und man kannte sich schon aus den Zeiten der Sommerwochenenden in der Elsterstraße, wo die Jonders ebenfalls ein Grundstück besaßen. Der Herrenschneider Jonder war angeblich Meister in einem Maßatelier Unter den Linden. Mit den pomadeglänzenden schwarzen Haaren, dem flotten Oberlippenbärtchen und der flinken Zunge wirkte er weltgewandt und jünger, als er war. Um seinen gehobenen Beruf zu unterstreichen, beendete er gern einen Satz mit "oui, Monsieur". Frau Jonder, zwei Jahre älter als ihr Mann, gefiel sich in der Rolle der unverstandenen Frau. Kam Emil Treulich in Sicht, blühte sie auf. Er hatte Spaß an der Verwandlung, spielte den Kavalier, machte galante Komplimente, und sie hauchte "merci", als bemerke sie nicht die Ironie des Mannes. Sie war es, die sich als Ziehmutter für Rudolf anbot, und der ratlose Vater war für das Anerbieten dankbar.
Dem Sohn verging bald die Dankbarkeit. Nie vorher hatte er tagsüber so sehnsüchtig auf des Vaters Heimkommen gewartet. Herausgenommen aus seinem sauberen Nest, befand er sich plötzlich in einer schmuddligen Welt. Jonders drei Mädchen liebten keinen außer sich selbst, manchmal noch den weißen Spitz Fiffi, wenn sie Lust hatten, ihn zu knuddeln.
Mit der Wahrheit hatten die Mädchen ständig Schwierigkeiten. Den Eltern ging es nicht anders. Forderte Frau Jonder Geld vom Gatten, entschuldigte sie sich mit Ausgaben, die erfunden waren. Herr Jonder kam abends manchmal später von der Arbeit und sprach dann von Überstunden. Selbst Rudolf spürte, dass auch das erfunden war.
Sehr früh und aus nächster Nähe lernte Rudolf so auch die Faulheit und ihre Schwester, die Drückebergerei, kennen. Lotti hatte des neuen Hausgenossen Gutmütigkeit erkannt und versuchte den drei Jahre Jüngeren zu ihrem Leibdiener zu machen. "Such mal meinen Murmelbeutel, bring mal meine Schulmappe, putz mir mal die Schuhe!" Hertha, neun Jahre alt, wollte nicht zurückstehen und bestand ebenfalls auf ständige Dienstleistungen. Weigerte sich der ewig Geplagte, dann ahndete sie es mit einer Ohrfeige. Lotti, wohl aus Angst vor dem stämmigen Kleinen, wagte dies nicht. Edith, die Vierzehnjährige, behandelte den Hosenmatz zuerst wie Luft, und schon dafür war der ihr dankbar. Später stellte sie sich sogar gegen die jüngeren Schwestern, wohl aus schlechtem Gewissen, weil Rudolf sie überrascht hatte an einem Ort, der hinter den drei zuerst gebauten Paradies-Häusern lag. Dort befand sich inmitten der Gärten das unterirdische Gewölbe mit der Wasserpumpstation für Paradies, oben abgedeckt von einem größeren Betongeviert mit einer eisernen Einstiegsklappe. Der Platz war auf Beschluss der Genossenschafter für Kinder tabu. Darum galt es als Heldentat, sich dort hinzuschleichen. Dieses nun tat an jenem Tag Rudolf, weniger von ihm als Mutprobe gedacht als aus Sehnsucht nach einem stillen Ort. Hier war es geheimnisvoll, denn unter dem Beton vernahm man leises Rumoren. Sicherlich stimmte es, was die Kinder sagten, dass dort unten ein Bergwerk der Zwerge sei, wo sie nach Gold pickten. Rudolf ließ seiner Fantasie die Zügel schießen, und das Träumen hatte nur den einen Haken, er durfte sich dabei nicht von Grujevater Schonfelder erwischen lassen. Ältere Männer mit Bart wurden von den Kindern Grujevater genannt. Der alte Schonfelder, freundlich meist und friedfertig, transportierte auf einem Spezialkarren die Müllkästen von Paradies zur Müllablage. Er hatte die Pumpstation zu beaufsichtigen und zu pflegen, und er besaß den Schlüssel zum Schloss an der Eisenklappe. Sich vergewissernd, schaute der Junge dorthin und erschrak. Das Schloss lag neben der Klappe. Grujevater war also unten, konnte jeden Augenblick auftauchen. Nischt wie weg, schrillte es im Kopf Rudolfs, aber zu spät. Die Eisenklappe wurde aufgestoßen, Oskar Dettrich tauchte auf, dicht hinter ihm Edith.
Oskar war arg verlegen. "Möönsch, wat - wat suchste denn hier?" stotterte der Vierzehnjährige.
"Habt ihr unten Zwerge gesehen?" Rudolfs Erschrockensein war schon überspült von brennender Neugier.
Oskar schaute leicht blöd, doch Edith, ausgestattet mit den sensitiveren Sinnen des Weibes, benutzte die goldene Brücke, die der Kleine ihr unbewusst gebaut hatte. "Natürlich haben wir die Zwerge gesehen, deshalb sind wir ja runter."
Rudolf nutzte die Gunst des Augenblicks. "Darf ich sie auch mal sehn?"
Edith gab dem Oskar einen heimlichen Knuff. "Wenn du keinem verrätst, dass wir unten gewesen sind."
"Ich schwör's." Rudolf hob die Schwurhand und zeigte ein Gesicht voll heiligen Ernstes. Höchst gespannt kletterte er hinter den beiden in die Tiefe.
Die Zwergenwelt zeigte sich wenig romantisch. Feuchter Zementboden, Betonwände, Röhren und Rohre und die ölige Dieselmotorpumpe, die den geheimnisvollen Lärm machte. Durch Glassteine fiel von oben grünliches Licht. Oskar schaute aufmerksam in die dunkle Nische hinter der Pumpe und schüttelte bedauernd den Kopf. "Keener mehr hier." - "Und vorhin waren da noch welche?" - "Zwei Stück haben drüben auf det dicke Rohr jesessen." Gnädig winkte Oskar den Zwergenfex näher. Der erblickte nur schmierigen Fußboden und fragte: "Wie groß waren sie denn?" Oskar deutete die Größe einer aufrecht stehenden Maus an.
"Ich dachte, es sind die Großen, wie der mit der Schubkarre in Siefferts Vorgarten."
"Ick sage dir, die flitzen durch jede Ritze." Oskar wies zur Eisenleiter. "Wir müssen machen - Grujevater versteht keen' Spaß."
Gehorsam stieg -Rudolf nach oben und fragte, ob Oskar ihm Bescheid sagen würde, sollte er wieder mal die Zwerge besuchen.
"Mal sehn." Oskar wusste, weshalb er einer klaren Absage auswich.
Rudolf suchte nun den geheimnisvollen Ort so oft wie möglich auf. Immer vergeblich, aber eines einsamen Tages vernahm er ein Geräusch, dem er fein leise nachging. Es kam aus Birnhardts Sommerlaube in dem lauschigen Winkel an der hohen Feldsteinmauer, welche den dahinterliegenden Bauernhof begrenzte. Rudolf fand keine Wichtel, sondern Edith und Oskar, die sich küssten. Rückwärts aufgestützt, hielt Edith sich an der Tischkante, da Oskar ihr Kopf und Oberkörper nach hinten bog. Rudolf sah, dass der Mittelfuß des Tisches, eingegraben im Lehmboden der Sommerlaube, fest stand wie ein Fels. Es beruhigte ihn, der Tisch konnte nicht umkippen. Mittlerweile aber fürchtete er, das zarte Kreuz Ediths könnte durchbrechen, falls Oskar sie noch weiter nach hinten bog. Ohne sich zu räuspern, fragte Rudolf: "Sucht ihr die Zwerge?"
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