1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Unter den Wartenden war inzwischen ein Streit wegen der Platzordnung ausgebrochen. Wie auf einem richtigen Boot wollten alle an der Spitze sitzen, und wieder drohte die Jungfernfahrt entweiht zu werden. Salomonisch entschied Max: "Wer zu Hause Arsch sagen darf, der setzt sich an die Spitze. Wer Hintern sagen muss, der kommt in die Mitte, und die bloß Popo sagen dürfen, nach hinten."
Selbstverständlich durften erst einmal alle zu Hause Arsch sagen. Mithilfe von Zeugenaussagen wurde dies geklärt, es blieb nur ein Häuflein für die Bootsspitze, die Mehrzahl musste sich bequemen, Plätze in der Mitte einzunehmen. Einsam und traurig stand der letzte Passagier auf der Landungsbrücke, der Knabe Rudolf.
"Wat stehste rum", schnauzte der Kapitän, "steig ein!"
"Ich möchte 'nen Platz in der Mitte."
"Wenn ick sage, du Popofatzke sitzt hinten, denn sitzte da, verstanden?"
"Ich zahle ebenso mein Fahrgeld wie die Andern." Stolz hielt Rudolf zehn niedliche Steinchen dem Kapitän vor die Nase.
"Die kannste dir sauer kochen!" höhnte der, schlug mit der Faust von unten gegen die flache Hand, und ein Kieselsteinregen prasselte auf Boot und Passagiere herab.
Der kleine Rudolf schlug ebenfalls. Mit der flachen Hand einmal die linke Wange des Max Zimmermann, dann die rechte und gleich noch einmal links und rechts.
Der Gemaßregelte war so verblüfft, dass er alles hatte geschehen lassen. Dann sah er rot. Dieser Wicht backpfeift einen Kapitän vor allen Passagieren? Er zerrte den Rebellen hinunter in den Kahn und drosch auf ihn ein. Rudolf dachte nicht an Kapitulation, er dachte an David und wehrte sich tapfer. Das war dem Halbwüchsigen so ärgerlich, dass er den Zwerg in den Schwitzkasten nahm. Der biss ihm in den Arm. "Aua!" brüllte Max, stieß den Widersacher von sich und versetzte ihm dabei einen Schwinger gegen die Nase. Die Nase begann rot zu triefen. Entsetzt schrien die Passagiere auf, und schnell wie die Ratten verließen sie das Schiff, obwohl es gar nicht am Sinken war. Rudolf wankte in Richtung Heimat, den Kopf weit nach hinten gelegt. Neben ihm ging Ilse, die Jüngste von Tieglers, die im selben Aufgang wie Treulichs wohnten. Sie sprach dem Spielgefährten Trost zu und führte ihn zur Bank auf der Paradiesstraße. Mit ihrem Taschentüchlein säuberte sie dem Helden Gesicht, Hals und Brust.
"Warum bist du denn nicht ausgerückt, nachdem du ihm die Ohrfeigen geschallert hast?" fragte Ilse.
"Dann hätte der noch gedacht, ich habe Angst."
"Mut ist ja ganz schön - aber nich 'ne blutende Nase."
"Wenn ich doch im Recht war."
Sie stellte sich ein Stück ab und betrachtete kritisch sein Aussehen. "Du, Rudi, erzählst du es meiner Mutti, dass ich vorhin geschwindelt habe?"
Rudolf war beinahe beleidigt. "Bin ich 'ne Petze?"
"Wenn du willst, zeige ich dir ein Nest in Lohmerts Korn."
"Kenne ich schon. Da habt ihr gestern Doktor gespielt!"
"Wenn du schwörst, dass du deiner Mama auch nichts sagst, kannst du morgen der Doktor sein."
Rudolf dachte, warum eigentlich Nein sagen? Zwar taten alle, als wenn Doktorspielen was Schlimmes ist, aber es gab ja auch das Spiel Vaterken und Mutterken, und wenn sie dabei Schlafengehen spielten, sahen sie sich ebenfalls ohne was an. Und die Jungen schauten unten herum so aus und die Mädchen anders. Aber das war ganz natürlich, hatte der Papa gesagt. Denn wenn die Mädchen nicht anders aussähen, wie sollte man sie von den Knaben unterscheiden.
Rudolf sah den Papa von der Arbeit kommen und rannte ihm entgegen. Emil Treulich nahm ihn hoch und schwenkte ihn herum. Dann stellte er ihn hin und betrachtete seinen Knaben genauer. "Hast du dich mit Mauersteinstaub eingerieben?"
Der Sohn berichtete von der Niederlage. Dabei befühlte er die Nase, sie war dick und schmerzte. Nun kamen ihm doch ein paar Tränen. Der Vater nahm ihn rasch hoch, setzte ihn sich auf die Schulter und tröstete: "Warst im Recht. Dabei kriegt man schon mal eins auf die Neese, wird dir noch öfter im Leben passieren."
Kinder haben keinen Begriff von der Zeit,
sie leben in den Tag hinein,
als währe das Leben ewig.
Obwohl der Schwächere, hatte Rudolf gegen offenbares Unrecht aufgemuckt, und die Niederlage machte ihn nicht zum Duckmäuser. Dass zum Feigesein manchmal viel Mut gehört, sollte Rudolf bald nach dem Zusammenstoß mit Kapitän Max erfahren. Es geschah dies einen Tag nach dem Erntefest. Erntefest, gefeiert von Arbeitern, die in der Industrie beschäftigt sind? Aber Paradies war umgeben von Feldern, und viele Genossenschafter bebauten Pachtland. Einige meinten auch, man muss den Bauern mal zeigen, was ein richtiges Erntefest ist. Andere fragten, was wohl symbolträchtiger für Friede, Freude, Frohsinn sei als ein Erntefest. Das des Jahres 1913 war heller Sonnenschein vor heranrückendem Gewitter. Emil Treulich verhehlte seine Befürchtung nicht, die Zeit des nächsten Erntefestes könnte schon Kriegszeit sein.
Das Fest begann am frühen Nachmittag des Sonntags mit einem Umzug durch die Paradiessiedlung und das Dorf, dann die Buntzelstraße hinunter bis zur Ecke Dahmestraße, wo rechter Hand der Schulneubau aus dem Boden zu wachsen begann. Einige hundert Meter weiter schwenkte der fröhliche Zug rechts ein zum Spielplatz, einer Wiese mit kärglichem Graswuchs im Besitz der Genossenschaft. Dort hatte man ein Podium aufgebaut, und ringsherum standen selbst gezimmerte Tische mit stabilen Holzbänken. Ein Karussell fehlte ebenso wenig wie eine Reihe Buden. In der einen gab es kochendes Wasser zum Kaffeebrühen, und die Paradieser ließen es sich wohl sein beim Kaffeeduft mit Dampfermusik."
Die Blaskapelle hatte den Festzug angeführt, dahinter kam eine Gruppe Genossenschafter, als Gärtner und Bauern gekleidet, die an Rechen und Heugabeln befestigte Schilder trugen: "Die Arbeitsleut' von Stadt und Land, sie reichen sich die Bruderhand." Auf einem anderen Schild stand: "Friede ernährt - Unfriede verzehrt!" Die Angst vor dem Krieg drückte sich am deutlichsten aus in dem Zweizeiler: "Friede soll uns das bewahren, was wir in die Scheuer fahren!" Klein Rudolf fragte nach dem Geschriebenen, und die Leute lasen es ihm vor. Dann schwieg er nachdenklich, als ob er verstanden habe, doch im nächsten Augenblick gab es Neues zu bestaunen. Da kam ein Erntewagen voller Kinder, die Mädchen trugen Blumenkränze im Haar, die Jungen kleine Garben unter dem Arm. Auf diesen girlandengeschmückten Leiterwagen mit den schweren Apfelschimmeln des Bauern Kumernus davor, war auch Rudolf hinaufgehoben worden, doch bald hatte er sich davongemacht, um den ganzen Umzug zu bestaunen.
Vorn, noch vor der Blasmusik, ritten auf zwei braven Braunen Herr und Frau Amtmann. Er im Gehrock, über der silbrigen Weste die goldene Amtmannskette, daneben im Damensitz Frau Amtmann, in Mieder und Dirndlkleid, einen Ährenkranz auf der blonden Haarkrone. Rudolf konnte sich nicht sattsehen an den prächtigen Reitersleuten, denn es waren der Papa und die Mama. Mit Gebärden und Zurufen suchte er auf sich aufmerksam zu machen, doch sie schienen ihn nicht zu bemerken. Wohl deshalb nicht, dachte er, weil sie mächtig aufpassen mussten, nicht vom Pferd zu fallen.
Ganz anders dagegen benahm sich der berittene Gendarm. Im sonstigen Leben hieß er Fritz Kodazik, ältester Sohn der vielköpfigen Familie und mit seinen starken Beinen wie geschaffen für dieses strapaziöse Amt. Durch Uniformjacke, Pickelhaube und martialischen Bart aus Stiefelwichse fast unkenntlich, steckte die untere Hälfte seines Körpers in einem Pferdeleib aus Gummi, der ausgestopfte Pferdekopf sah ungeheuer echt aus. Der Schutzmann trabte ständig umher, manchmal scheute sein Pferd und ging vorn hoch, manchmal fiel es in Galopp, und die Kinder schrien jedes Mal in herrlichem Grusel, wenn er auf sie zugeprescht kam.
Für Rudolf waren die Eltern auf hohem Ross zwar imposant, doch Fritze Kodazik und sein schnelles Gummipferd fand er aufregender. Dessen ungeachtet gedachte er den Papa zu bitten, ihn auf dem Spielplatz aufs Pferd zu heben. Reiten musste etwas Tolles sein, wie herrlich konnte man danach vor den Spielkameraden prahlen.
Читать дальше