Ein Jahr später war Merker in derselben Stadt und mag mit verschiedenen Leuten aus dem Umkreis der Mörder zu tun gehabt haben.
Dem Freskenmaler Siqueiros konnte wie erwähnt bei der Untersuchung des zuvor stattgefundenen Überfalls auf die Trotzki-Festung in der Calle Viena kein Mordauftrag oder eine Mordabsicht nachgewiesen werden. Er blieb fest dabei, allein und aus Wut über Trotzkis Verrat an der kommunistischen Sache gehandelt zu haben. Geplant sei gewesen, das Haus nach Dokumenten zu durchsuchen, die Trotzkis Zusammenarbeit mit den »Nazis« beweisen sollte. Der Plan hierzu hätte er bereits in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges zusammen mit einem anderen, Carlos Contreras, erdacht. Dieser Contreras war als eine bei allen Diensten bekannte Größe allererster Ordnung, ein verwegener, bedenkenloser Terrorist. Sein richtiger Name lautet Vittorio Vidali, er war gebürtiger Italiener. Tina Modotti zählte eine Zeitlang zu seinen Geliebten. Dieser Vidali wurde als Kopf der Verschwörung gegen Trotzki verhaftet und polizeilich vernommen. Soviel kam bei der Untersuchung heraus: Die »Xavier Mina«, eine Organisation ehemaliger spanischer Interbrigadisten, als deren Sekretär Vidali fungierte, hatte die logistische Planung des Überfalls auf Trotzkis Haus übernommen. Die Niederlage der »Interbrigaden«, in denen viele der mexikanischen Akteure gekämpft hatten, der Verdacht, Trotzki habe mit dem internationalen Faschismus konspiriert, lateinamerikanische Rebellentraditionen, dies alles zusammen hatte zu einem Gefühlsstau geführt, und zu blinden, haßerfüllten Handlungen, die sich aus der Ferne leicht lenken ließen, ja, die nicht einmal besonders gelenkt zu werden brauchten. Alles lief gleichsam von selbst ab.
Unübersichtliche Querverbindungen zwischen Emigranten, Agenten, Interbrigadisten und mexikanischen Rebellen, Nebenfiguren einer größeren Auseinandersetzung im Untergrund hätten also in die Überlegungen Merkers mit hineinspielen müssen. Er stand dem Attentäter wie den Drahtziehern des Überfalles natürlich meilenfern, und er war auch erst in Mexiko angekommen, als der Fall Trotzki abgeschlossen schien. Dennoch stieß Merker auf Vidali in einem anderen Zusammenhang. Mit Hannes Meyer, einem ehemaligem Dessauer Bauhausdirektor, nunmehrigem Schweizer Bürger, und mit Mario Montagnana, einem Schwager Togliattis, der in Le Vernet, dem französischem Lager interniert war, hatte Vidali eine Zelle gegründet. Wie gesagt, als Merker 1942 in Mexiko Asyl erhielt, war der Mord an Trotzki bereits Vergangenheit, und alle darin verwickelten Akteure konnten ungehindert reisen und sich politisch frei bewegen. Vidali, Meyer und Montagnana zählten zu den bedingungslosen moskautreuen Kominternleuten. Nach Ansicht Vidalis und seiner Genossen unterstand Merker, Vidalis Oberaufsicht. Als ausländische Zelle innerhalb der mexikanischen Kommunistischen Partei, unter der Kontrolle der Komintern und Vidalis sah Merker seine »Bewegung Freies Deutschland« nun allerdings überhaupt nicht. Vidali sollte noch einmal in das Leben Merkers eingreifen; nach der Rückkehr des Mexikoemigranten in das freie Europa hat er, der Wahrscheinlichkeit nach, Merker als Abweichler denunziert, womit sich der Kreis schließt.
Wie war die Lage dieser Bewegung und Merkers als Teil der Emigration in der westlichen Hemisphäre bei Kriegsende? Sie zeitigte keine weiter tragenden Ergebnisse, also auch keinen höheren Organisationsgrad. Das Kriegsglück hatte sich gedreht, die Rote Armee stand vor ihrem Sieg über die Hitlerwehrmacht, die Westalliierten waren bei der Stange geblieben, und das Treffen der Armeen an der Elbe machte sichtbar, daß für die unmittelbar folgende Periode kein politischer Erdrutsch zu befürchten war. In allen Teilen der Welt rüsteten die Exilanten zur Heimkehr, falls sie nicht zusammen mit den kämpfenden Truppen noch früher nach Deutschland kommen würden, um ihre besonderen Aufgaben zu übernehmen, der Reinigung der deutschen Seelen vom Gift der Großmannsucht, der Hilfe bei Verhören, dem Aufspüren von Kriegsverbrechern und - in etwas fernerer Zeit - der Installation eines neuen Deutschland, das sich die einen als sozialistische, die anderen als parlamentarisch durchgebildete Demokratie vorstellten. Das lag noch weit im Feld. Merker dürfte in seinem vergleichsweise freien mexikanischen Exil kaum von allen tiefen Ängsten der in Moskau festsitzenden kommunistischen Altfunktionäre gewußt haben, vom Hörensagen einmal abgesehen. Er wußte soviel wie jedermann, der wissen wollte. Aber bis 1945 hatte sich diese Sowjetunion in einer gewaltigen Kraftanstrengung - und durch das wirkliche Charisma Stalins, durch seinen mächtigen Einfluß auf die Massen in jener Zeit, zusammengehalten - gegen die technisch überlegene Hitlerwehrmacht durchgesetzt, mit hohen Menschenverlusten zwar, aber am Sieg der Sowjetunion war nicht mehr zu zweifeln. Danach mußte eine neue Epoche anbrechen, die Nachkriegsperiode.
Unbedingt hat Merker auch die verschiedenen Siegerentwürfe zur Aufteilung Deutschlands in Einsamkeit mit sich diskutiert. Die Emigranten empfanden aktuell und gemeinsam eine tiefe Genugtuung über die Niederlage Hitlers, wie seinem blasphemisch-tragischen Ende im Führerbunker. In der »antifaschistisch-demokratischen« Front standen sie vorläufig alle. Zweitens lebten in Mexiko hochkarätige Emigranten, die durchaus nicht an Merkers Ideen und Absichten teilgehabt hatten, und deren künftiger Einfluß auf den Gang der Geschichte abzuwarten war. Merker, ein Gegner terroristischer Gewalt, setzte noch immer auf einen linksliberalen Repräsentanten wie Heinrich Mann, dessen politische wie menschliche Haltung er tief respektierte, und der ihm wohl auch innerlich nahestand. Ihm hatte Merker eine besondere Rolle in der Bewegung - und darüber hinaus - zugedacht. Daß Heinrich Mann als parteiloser Linksliberaler für die Apparatfunktionäre politisch nicht in der ersten Reihe gehörte, kaum tragbar und eher auf einen untergeordneten Platz zu verweisen war, ignorierte Merker. Umgekehrt hielt Heinrich Mann Merker für geeignet, an höchster Stelle im demokratischen Staat zu fungieren. Er sah, wie oben vorgreifend erwähnt, in ihn einen künftigen deutschen Reichskanzler. Sein überraschender Tod ersparte Merker dann die tragische Einsicht in die Grenzen eines schriftstellernden Liberalen.
Heinrich Mann gehörte einer Vereinigung an, als deren recht später Gründungstermin der 2. Mai 1944 genannt wird, eines »Rates für ein demokratisches Deutschland«. Es handelt sich um ein ziemlich großes Gremium, das sich in New York zusammenfand, um die nächsten Ziele in Deutschland zu formulieren; der Verein mag dem Geschmack Heinrich Manns genau entsprochen haben, vereinigte er doch alle möglichen Parteien und Richtungen. Künstler, Wissenschaftler, Kommunisten, Sozialdemokraten zählten dazu, unter anderem auch Albert Norden, als den in unserem Zusammenhang auffallendsten. Das Gremium gab auch Erklärungen heraus, die auf eines hinausliefen, den wahrscheinlich kleinsten Nenner. 1966 liest sich das so:
Zitat Anfang: »...daß für die Lösung der deutschen Frage die Ausrottung des Nationalsozialismus und die politische, soziale und wirtschaftliche Entmachtung der Träger des deutschen Imperialismus notwendig sei und daß sich der künftige demokratische Staat auf die vielfältigen Kräfte des antifaschistischen Widerstandes stützen müsse. Verschiedene Kommissionen des Rates arbeiteten Denkschriften, u. a. über die wirtschaftliche Entwicklung, die Gewerkschaften, die Bildung und Erziehung, aus. Nur die Gruppe deutscher Antifaschisten um die Halbmonatszeitschrift »The German American« (Mai 1942) und das in englischer Sprache erscheinende Bulletin »German Today« zu deren Gründern und ständigen Mitarbeitern G. Eisler, E. Krüger, Marschwitza, Norden, K. Obermann, K. Rosenfeld, Schreiner und M. Schröder gehören, wirkt im Sinne der Bewegung »Freies Deutschland« und entsendete trotz Behinderung durch amerikanische Behörden Verbindungsleute in Lager für deutsche Kriegsgefangene. Der Rat, in dem eine bürgerliche und sozialdemokratische Mehrheit, die weiter auf antikommunistische Position verharrt, das Übergewicht hat, nimmt keine Verbindung zum NKFD (National Komitee Freies Deutschland) auf und lehnt dessen Anerkennung ab. Trotzdem fördern die Schaffung des Rates und die Mitarbeit der Kommunisten in diesem Rat den weiteren Zusammenschluß deutscher antifaschistischer Kräfte.« Ende des Zitates.
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