Jerome atmete erleichtert auf. Diese ganzen Promotion-Veranstaltungen waren schon lästig genug, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass man ihm so persönliche Fragen stellen würde.
Der Journalist und der Fotograf packten Aufnahmegerät und Kamera ein und verabschiedeten sich.
Jerome stand auf und vertrat sich ein wenig die Beine. Durch die offene Tür konnte er Julie Griscom an ihrem Schreibtisch sitzen sehen, wo sie hektisch telefonierte. Etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Sie war schon so komisch gewesen, als er vor einer halben Stunde in der Büro-Suite angekommen war, sie wirkte total aufgelöst. Er betrachtete die junge Frau, die jetzt den Hörer auf die Gabel warf und sogleich eine Email in die Tastatur ihres Computers hackte. Der schimmernde Blondton ihrer Haare erinnerte ihn an Ella. Die Frisur war allerdings anders. Der ganze Rest auch.
Julie wandte sich wieder zum Telefon, tippte eine Nummer und sprach in einem so schnellen Englisch, dass Jerome nicht verstehen konnte, worum es ging. Ihm wurde bewusst, wie andächtig er sie anstarrte, und gab sich einen Ruck. Vielleicht war sie nur einfach nicht gut organisiert. Es ging ihn ja auch nichts an.
Monique führte eine schwarzhaarige Frau im mittleren Alter herein. Seine nächste Interviewpartnerin, eine Journalistin aus Spanien.
„Señor Chauvet, machen Sie schon lange Filmmusik? Wie fing das an?“
„Ja, ich mache schon länger Musik ...“ Jerome spulte seinen Text herunter. Dies war jetzt das vierte Interview und die Journalisten stellten alle mehr oder weniger die gleichen Fragen.
„Basieren Ihre wunderbaren, traurigen Melodien auf eigenen leidvollen Erfahrungen?“, fragte die Spanierin und wartete gespannt auf seine Reaktion.
„Nun, es ist doch die Aufgabe eines Filmkomponisten, die Gefühle des Zuschauers anzusprechen und zu intensivieren ...“, und so weiter und so weiter. Die Antworten gingen ihm mit jedem Mal flüssiger über die Lippen.
Nach einem weiteren Interview mit einem irischen Fernsehteam war es geschafft. Während Monique noch mit dem Redakteur und seinem Kameramann verhandelte, nahm Jerome sein Jackett und ging in den anderen Raum hinüber. Julie Griscom kam gerade aus dem Büro ihres Chefs und schloss die Tür hinter sich. Sie sah gestresst und müde aus.
„Ah, Monsieur Chauvet, ist alles gut gelaufen? Waren die Journalisten nett zu Ihnen?“ Trotz ihrer Anspannung schaute sie ihn freundlich an.
„Danke ja, und bei Ihnen? Sie scheinen nicht ganz glücklich zu sein“, sagte er mitfühlend.
Julie sah ihn überrascht an. „Ja, da haben Sie Recht.“ Sie versuchte, locker zu klingen. „Aber das sind nur die üblichen organisatorischen Herausforderungen, wie immer bei solchen Veranstaltungen. Machen Sie sich keine Sorgen.“ Sie presste die Lippen zusammen und sah aus, als könnte sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.
Jerome spürte ein unwiderstehliches Verlangen, sie in seine Arme zu nehmen und zu trösten, ihr über die blonden Haare zu streichen und etwas zu murmeln wie: „Alles wird gut.“ Statt dessen riss er sich zusammen und sagte: „Ich mache mir keine Sorgen. Es ist ja nicht mein Problem!“
Julie zuckte zusammen, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen.
„Einen schönen Tag noch!“ Jerome verließ eilig die Suite und zog die Tür hinter sich zu. Im Korridor lehnte er sich gegen die Wand. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Was war denn plötzlich mit ihm los? Er verabscheute Unhöflichkeit, aber diese Frau brachte ihn dazu .. ja wozu eigentlich? In einem Moment fühlte er sich von ihr angezogen und im nächsten Augenblick hasste er sie! Er wusste nicht warum, er kannte sie doch kaum, aber genau das war es, er hasste sie!
Sam Cole kam aus seinem Büro und Julie tat schnell so, als würde sie etwas in der unteren Schreibtischschublade suchen. Ihre Tränen brauchte niemand zu sehen.
„Sind die Interviews mit dem Komponisten gut gelaufen?“ Sam studierte die Interview-Pläne auf Moniques Schreibtisch.
„Mhhm, ja.“ Julie kramte noch ein bisschen weiter und versuchte, ihre Fassung zurück zu gewinnen.
„Ein wirklich netter Mann, dieser Chauvet, sehr sympathisch“, sagte Sam. „Zu allen nett und freundlich, sehr angenehm in der Zusammenarbeit.“ Er seufzte. „Nicht so launisch und unzuverlässig wie diese Hollywood-Typen! Ich geh wieder telefonieren. Vielleicht bekomme ich endlich einen Verantwortlichen vom Management an die Strippe.“ Er verschwand in seinem Büro.
Julie tauchte wieder auf, fand ein Taschentuch und trocknete sich die Tränen. Nett? Sympathisch? Zu ihr nicht! „Gefühlloser Trampel“ würde eher zu Jerome Chauvet passen. Aber das war nebensächlich. Das eigentliche Problem war viel größer: Ryan Parker hatte abgesagt!
Natürlich hatte er nicht selbst angerufen. Irgendein Assistent des Managements hatte Sam Cole darüber informiert, dass Ryan Parker nicht zum diesjährigen Festival erscheinen würde. Einfach so. Ohne Angabe von Gründen.
Geschäftlich war es eine Katastrophe. „Rodeo Drive“ war der wichtigste Film von International Movies hier in Cannes und alle Journalisten wollten diesen Hauptdarsteller sehen. Sie mussten jede Menge Termine absagen. Oder einen Ersatz beschaffen und zwar möglichst vorgestern!
Aber der geschäftliche Teil war Julie im Moment völlig egal. Ihr größter Traum war gerade zerplatzt wie eine alte Seifenblase. Ryan blieb in Hollywood, fern und unerreichbar. Sie würde ihm niemals begegnen. Konnte ihn niemals von der Leinwand herunter in ihr Leben holen. Ihr stiegen schon wieder die Tränen in die Augen, aber dann hörte sie das girrende Lachen von Monique, die nebenan mit den irischen Journalisten flirtete, und riss sich zusammen.
Sam kam wieder aus seinem Büro, ließ sich auf den Stuhl vor Julies Schreibtisch fallen und rieb sich müde über die Augen. „Nichts Neues“, sagte er. „Lass uns für heute Schluss machen. Die Interviews zu `Morning Light` sind gut gelaufen und in Sachen `Rodeo Drive´ erreichen wir heute sowieso nichts mehr.“
Monique trippelte herein, dicht gefolgt von dem irischen Fernsehteam. „Der Name des Clubs ist Circus“, sagte sie und kritzelte etwas auf einen Zettel. „Er ist ganz einfach zu finden.“ Sie übergab den Zettel mit einem koketten Augenaufschlag. „Bis später.“
Nachdem die Iren sich verabschiedet hatten, fragte Sam: „So, so, Sie gehen noch in den Circus?“
Monique nickte lächelnd. „Ein bisschen feiern und tanzen.“
„Feiern?“ Sam runzelte die Stirn. „Zum Feiern haben wir heute wohl keinen Grund. Aber ein bisschen Ablenkung würde uns vielleicht auch gut tun, was meinst du, Julie?“
„Ich weiß nicht ...“ Julie zuckte müde mit den Schultern.
„Doch, ich denke, wir gehen erst einen Happen essen und danach nehmen wir einen Entspannungsdrink im Circus“, beschloss Sam. „Wir treffen uns um halb acht in der Hotellobby.“
Im Restaurant bekam Julie kaum einen Bissen herunter, obwohl sie den ganzen Tag über wenig gegessen hatte. Sam war ebenfalls niedergeschlagen und wortkarg. Nur Monique ließ sich von den Umständen nicht die Stimmung verderben. Sie war in Feierlaune, hatte sich extra in ein enges, superkurzes Kleidchen gezwängt und sich kräftig geschminkt. Julie war nach dem Duschen nur schnell in schmale schwarze Jeans und eine hellgrüne Seidenbluse geschlüpft. Sam trug immer noch seinen sandfarbenen Anzug und hatte nur ein frisches T-Shirt angezogen.
Nach dem Essen fuhren sie ins Circus und setzten sich an die Bar. „Jetzt haben wir uns einen ordentlichen Drink verdient!“, sagte Sam. „Monique, was nehmen Sie?“
„Sex on the Beach!“ Die Französin machte einen Schmollmund.
„Julie?“
„Ich weiß nicht, vielleicht ein Mineralwasser ...“
„Julie, das war ein harter Tag und wer weiß, was morgen alles auf uns zukommt. Gönn dir eine kleine Entspannung zwischendurch.“
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