Gleichzeitig aber finde ich ihr Verhalten ein wenig exaltiert. So schlimm, dass man darüber verzweifeln müsste, ist unser jetziges Alter nun auch nicht. Enttäuschung macht sich bei mir breit über dieses Wiedersehen, das ich mir lustiger vorgestellt hatte. Da höre ich Billy leise sagen: „Meine Oma ist gestorben.“
Im Nu verfliegt die Enttäuschung. Und bei all meinem abgrundtief empfundenen Mitleid bin ich, ehrlich gesagt, zugleich erleichtert darüber, dass es einen triftigen Grund für Billys desolaten Gemütszustand gibt.
„Oma Hertha?!“
Billy nickt tapfer. Und ich sehe die kleine, runde Oma vor mir, die meine Freundin quasi aufgezogen hat, mit ihrer dunkelblauen Schürze und den zarten braunen Haarnetzen auf den weißen Locken, eine Großmutter wie aus einem liebevoll illustrierten Kinderbuch. Vor wenigen Tagen war sie, recht plötzlich, an einer nur mittelschweren Lungenentzündung verstorben. Und gestern war die Beerdigung. Unwillkürlich legen wir eine Schweigeminute für Oma Hertha ein.
„Wie geht’s eigentlich deiner Mutter?“, erkundigt sich Billy und ihr trauriges Lächeln bohrt sich wie ein Messer in meine Eingeweide, so dass mir kurz der Atem stockt.
„Gut“, antworte ich wahrheitsgemäß, aber knapp, und verschweige nicht, dass meine Mutter es manchmal im Rücken hat, zuweilen auch in den Knien. Angesichts von Billys toter Oma kann ich meine Mutter unmöglich allzu quicklebendig präsentieren. Außerdem jammert sie tatsächlich hin und wieder über Schmerzen oder dies und jenes. Mehr als früher jedenfalls.
Billy hört interessiert zu und nickt. Obwohl sie zuallererst wegen Oma Herthas Beerdigung nach Berlin zurückgekehrt ist, will sie nun, da sie schon mal hier ist, alle möglichen Leute wiedersehen. Sofort frage ich mich, ob dieser Vorsatz auch für ihre eigene Mutter gilt. Doch dann fällt mir ein, dass sich die beiden, als Tochter und Enkelin von Hertha, bereits auf deren Beerdigung über den Weg gelaufen sein müssten.
„Dass ich so spontan aus Kanada wegmusste, war aber auch – wie sagt man? It just suits me eben“, erklärt mir Billy und schmunzelt. „Denn da war noch die blöde Story mit diesem boy .“
Neugierig reiße ich meine Augenbrauen bis zum Anschlag hoch und erfahre, dass der boy , zunächst eine harmlose Affäre, immer aufdringlicher wurde, so dass Billy vor seinen Liebesbezeugungen flüchtete, als wären es Prankenhiebe eines Grizzlybären. Job hingeschmissen, Wohnung gekündigt, alles aufgegeben, um „erstmal“ einen längeren „Zwischenstopp“ in der alten Heimat einzulegen. Natürlich ohne jede Ahnung, wie die Reise danach weitergehen soll.
Verständnisvoll nicke ich meiner Freundin zu, dabei verstehe ich überhaupt nichts. Diese Frau steht mal wieder direkt vor dem absoluten Gar Nichts – und lacht! Fährt sich mit der Hand kokett durch die glanzlosen Zotteln und zuckt ratlos mit ihren Möbelpackerschultern. Genau wie früher in der Schule, als niemand ihr je böse sein konnte, egal was sie wieder verzapft hatte.
„Und nun?“, erkundige ich mich neugierig.
„ Now I’m here !“, ruft Billy, lässt ihr wieder Lachen gurgeln und breitet dabei die Hände aus, als würde sie sich selbst als Resultat einer gelungenen Zaubernummer präsentieren.
Da ist sie, Billy, das Original. Meine alte Freundin.
Gerührt beuge ich mich über den Tisch und in einem Anfall von Was-auch-immer umarme ich Billy. Sie riecht nach exotischen Nadelhölzern, nach Kanada eben. Der Geruch der großen weiten Welt. Einer Welt, auf der es so ungerecht zugeht! Die einen haben alles, was sie sich nur wünschen, andere hingegen: Nichts. Ich spüre, wie eine vereinzelte Träne, einem schillernden kleinen Mistkäfer gleich, über mein Makeup krabbelt.
„Und nun?“, frage ich erneut nach, nachdem meine Arme Billy wieder freigegeben haben, noch immer fassungslos, wie man so völlig ohne Plan leben kann. Und bekomme eine Antwort, wie ich sie von Billy nicht anders erwartet habe: „ No idea .“
Nun, vielleicht hätte ich eine. Gerade kommt mir nämlich eine ziemlich verrückte Idee, die ich vorerst jedoch schön für mich behalte. Denn ganz geheuer ist sie mir selbst nicht.
Wieder lächeln wir einander zu, über die weißen Kaffeetassen hinweg, in denen inzwischen nur noch weißbraune Schaumreste am Boden kleben. Diese Leere erinnert mich an Billys prekäre Situation. Unwillkürlich krame ich mein Portemonnaie aus der Tasche, hole zwei Fünfziger heraus und reiche sie mit einem auffordernden Blick über den Tisch. Denn natürlich braucht Billy Geld. Alles andere würde mich wundern.
Meine Freundin aber ziert sich, die beiden Scheine anzunehmen, und zwar derart, als würde sie das Geld bei mir persönlich abarbeiten müssen, das Haus von oben bis unten putzen oder beide Autos waschen. Wie albern von ihr! Wenn sie Probleme damit hat, das Geld als Geschenk anzunehmen, kann sie es mir schließlich später zurückgeben. Ist doch kein Problem. Und das sage ich ihr auch. Eindringlich. Billy aber schüttelt noch immer stur ihren Dickschädel, während ich derweil ziemlich albern die beiden Geldscheine in der Luft halte und mein rechter Arm allmählich schlappmacht. Jetzt reicht’s mir aber. Ungeduldig mache Billy klar, dass sie das Geld nehmen muss. Schließlich sei ich ihre Freundin. Sie solle damit, verdammt nochmal, shoppen gehen oder sonstwas machen, sich einfach mal was gönnen!
Endlich erbarmt sich Billy und nimmt mir gnädigerweise nach einer gefühlten Ewigkeit mit viel Schmoll im Gesicht die hundert Euro ab. Sagt dazu aber gleich, dass sie „ this pretty penny “ nicht beim Shoppen verplempern, sondern lieber mit mir in einer Cocktailbar vertrinken will. Ganz die Mutter!, denke ich spontan, ein wenig besorgt. Und obwohl diese Art der Verwendung nun wirklich nicht Sinn und Zweck meiner Großzügigkeit war, hat Billys Vorschlag durchaus einen Charme, dem ich mich nicht entziehen kann. Und gar nicht möchte.
„ Why not ?“, frage ich unternehmungslustig und rufe sogleich Bernd an, um ihn darüber zu informieren, dass es heute später wird. „Vermutlich sehr spät!“, ergänze ich vergnügt, denn ein solcher Anruf ist für mich eine absolute Premiere. Endlich kommt so eine Ansage – Sorry, Darling, es wird heute später! – mal von mir. Nicht immer nur von ihm.
Bernd schweigt zunächst, als hätte er den Hörer verschluckt. Zumindest also findet er nichts Konkretes dagegen einzuwenden. Doch sogar durchs Telefon hindurch spüre ich deutlich, wie mein Mann damit hadert, dass er die Kinder abholen, ihnen Abendbrot machen und sie allein zu Bett bringen soll. Damit er ein gewisses Verständnis dafür aufbringt, dass ich meine Freundin heute nicht allein lassen möchte, erwähne ich den Tod von Billys Oma. Und ärgere mich zugleich, dass ich derart schwere Geschütze wie einen Todesfall auffahren muss, um meinem Mann spontan einen freien Abend abzutrotzen.
Dafür aber will ich diesen nun richtig genießen.
„Okay“, sage ich und gucke Billy verwegen an. „Lass uns Cocktails trinken, auf die guten alten Zeiten!“
Wir stoßen die Köpfe sanft gegeneinander, was für uns sowas war wie heutzutage die Ghettofaust. Dann stehen wir auf und gehen. Einfach so. Ohne was zu sagen. Und ohne zu bezahlen.
Genau wie früher.
5 Dieses intensive Kribbeln im Bauch, als wir mit flotten Schritten die Straße hinunterlaufen, fühlt sich fantastisch an. Mental sind wir etliche Jahre jünger als die etwa zwanzigjährige Kellnerin, die uns wütend hinterherrennt und bald einholt. Kichernd entschuldigen wir uns, bezahlen selbstverständlich umgehend die beiden Tassen Kaffee und begründen unsere vermeintliche Zerstreutheit wortreich damit, dass wir, zwei alte Freundinnen, uns fast hundert Jahre nicht gesehen hätten.
Читать дальше